| Nach einer beendeten Weihnachtsfeier fand ein Trinkgelage in den Räumlichkeiten der Arbeitgeberin statt. Die Folge: Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin haben sich jetzt vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Düsseldorf auf dessen Vorschlag auf eine Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses geeinigt. |
Das war geschehen
Der Arbeitnehmer war seit dem 1.6.2021 als Gebietsmanager Mitte (NRW) im Außendienst bei der Arbeitgeberin, einer Winzergenossenschaft, beschäftigt. Am 12.1.2023 fand bei dieser eine Weihnachtsfeier statt. Nach der Begrüßung im Betrieb mit einem Sekt fuhren die Beschäftigten gemeinsam mit einem Bus zu einem externen Restaurant. Gegen 23:00 Uhr fuhr der Bus die Beschäftigten, die dies wollten, zurück zur firmeneigenen Kellerei.
Der Arbeitnehmer hatte sich dieser Gruppe angeschlossen. Eine Fortsetzung der Weihnachtsfeier im Betrieb war nicht vorgesehen. Der Arbeitnehmer traf sich mit zwei weiteren Kollegen im ca. 500 Meter vom Betrieb entfernten Hotel, um dort eine Flasche Wein zu trinken. Danach gingen er und ein Kollege zurück zum Betrieb der Arbeitgeberin. Das Tor zum Betriebsgelände wurde mit der Zutrittsberechtigungskarte des Kollegen geöffnet. Im Aufenthaltsraum der Kellerei tranken der Arbeitnehmer und sein Kollege vier Flaschen Wein. Die leeren Flaschen standen am nächsten Morgen auf dem Tisch. Im Mülleimer befanden sich zahlreiche Zigarettenstummel. Auf dem Fußboden lag eine zerquetschte Mandarine, die zuvor an die Wand geworfen worden war. Einer der beiden Mitarbeiter hatte sich neben der Eingangstür erbrochen. Das Hoftor stand offen. Der Kollege des Arbeitnehmers wurde am Abend auf dem Nachhauseweg von der Polizei aufgegriffen und wegen seiner starken Alkoholisierung zum Ausschluss einer Eigengefährdung nach Hause gefahren. Er räumte am 16.1.2023 gegenüber der Arbeitgeberin ein, „etwas Scheiße gebaut“ zu haben. Er bezahlte den Wein.
Fristlose Kündigung nach Betriebsratsanhörung
Nach Anhörung des Betriebsrats am 19.1.2023 und mit dessen Zustimmung vom 23.1.2023 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis mit dem Arbeitnehmer am 25.1.2023 fristlos und hilfsweise fristgerecht zum 30.4.2023. Anders als das Arbeitsgericht (ArbG) hat das LG im Rechtsgespräch zum Ausdruck gebracht, dass es eine Abmahnung im Hinblick auf die Schwere der Pflichtverletzung nicht für ausreichend erachtet. Es sei offensichtlich, dass man als Mitarbeiter nicht nach beendeter Weihnachtsfeier mit der Chipkarte des Kollegen gegen Mitternacht die Räume des Arbeitgebers betreten dürfe, um dort unbefugt vier Flaschen Wein zu konsumieren. Anhaltspunkte für eine dem Arbeitnehmer erkennbare Duldung dieses Verhaltens seitens der Arbeitgeberin seien nicht ersichtlich. Es stelle sich allenfalls die Frage, ob das Verhalten bereits eine fristlose Kündigung rechtfertige oder die Interessenabwägung zu einer ordentlichen Kündigung führe.
Nach gerichtlichem Vorschlag: spätere Kündigung
Auf Vorschlag des LAG haben die Parteien sich aus sozialen Gründen auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf der Grundlage der streitigen Kündigung mit einer sozialen Auslauffrist bis zum 28.2.2023 geeinigt.
Quelle | LAG Düsseldorf, Urteil vom 12.9.2023, 3 Sa 284/23, PM 27/2
| Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm war mit der Wirksamkeit einer testamentarischen Bedingung befasst, die ein Hausverbot vorsah. Es stellte klar: Eine solche Bedingung ist sittenwidrig. |
Das war geschehen
Die Klägerin erbte als einzige Tochter ihrer verstorbenen Mutter im Wesentlichen ein Hausgrundstück mit einem freistehenden Einfamilienhaus, in dem die Mutter und die Tochter mit der Enkelin bis zu deren Auszug in verschiedenen Wohnungen lebten. Die Enkelin wurde als Miterbin eingesetzt.
Der langjährige Lebensgefährte der Tochter hatte eine eigene Wohnung, ging aber in dem Haus ein und aus, war der Ziehvater der Enkelin und nahm im Haus auch Reparaturen vor. Es gab zu keiner Zeit Streit oder ein Zerwürfnis und man lebte wie eine Familie zusammen. In dem Testament, in dem die Tochter und die Enkelin als Erbinnen eingesetzt wurden, waren hierfür allerdings zwei Bedingungen formuliert: Zum einen war es den Erbinnen untersagt, das Grundstück an den Lebensgefährten der Tochter zu übertragen. Zum anderen sollten die Erbinnen dem Lebensgefährten auf Dauer untersagen, das Grundstück zu betreten.
Zur Überwachung des Verbots wurde der Beklagte als Testamentsvollstrecker eingesetzt. Er sollte die Immobilie bei einem Verstoß gegen die Bedingung veräußern, wobei der Erlös jeweils zu ¼ der Tochter und der Enkelin und im Übrigen gemeinnützigen Zwecken zukommen sollte.
War die Bedingung des Betretungsverbots nichtig?
Die Erbinnen verlangten vor dem Landgericht (LG), festzustellen, dass die Bedingung des Betretungsverbots nichtig sei, weil sie dieses für sittenwidrig hielten. Das LG gab der Klage statt. Hiergegen wandte sich der Beklagte mit seiner Berufung an das OLG Hamm. Da das OLG die rechtliche Einschätzung der Vorinstanz zur Sittenwidrigkeit teilte, nahm der Beklagte seine Berufung zurück, sodass das Urteil des LG rechtskräftig wurde.
Ein schwerwiegender Ausnahmefall, der zur Sittenwidrigkeit einer Bedingung führen kann, sei immer nur anzunehmen, wenn in der Abwägung zwischen der Testierfreiheit der Erblasserin und den Freiheitsrechten der Betroffenen anzunehmen ist, dass die nur bedingte Zuwendung einen unzumutbaren Druck auf die Bedachten ausübt, sich in einem höchstpersönlichen Bereich in einer bestimmten Art und Weise zu verhalten. Bedingungen, die dagegen lediglich die Nutzung des vererbten Vermögensgegenstands betreffen, seien dagegen regelmäßig zulässig. Hier weise zwar die angefochtene Bedingung einen Bezug zur Nutzung des vererbten Hausgrundstücks auf.
Unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles stehe hier jedoch im Vordergrund, dass dem langjährigen Lebensgefährten der Zugang zur schon vorher genutzten Wohnung plötzlich verwehrt sein soll. Das bis zum Tod der Erblasserin unstreitig praktizierte familiäre Zusammenleben könnte aufgrund der Bedingung nicht mehr in dieser Form fortgeführt werden. Damit sei aber der höchstpersönliche Bereich der Lebensführung der Tochter betroffen und die Bedingung sittenwidrig und nichtig. Für die Rechtsfolge sei davon auszugehen, dass die Erblasserin ihre Tochter und ihre Enkelin auch ohne die unwirksame Bedingung zu Erbinnen eingesetzt hätte, sodass die Sittenwidrigkeit nur dazu führe, dass die Bedingung entfällt.
Quelle | OLG Hamm, 10 U 58/21, PM vom 19.7.2023
| Wer in der ehemaligen DDR in rechtsstaatswidriger Weise adoptiert wurde, hat einen Anspruch auf verwaltungsrechtliche Rehabilitierung gemäß dem Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz (hier: § 1 VwRehaG) durch Feststellung der Rechtsstaatswidrigkeit dieser Adoption, wenn sie zu den in der Vorschrift genannten Folgen geführt hat und diese noch unmittelbar schwer und unzumutbar fortwirken. Das hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschieden. |
Gerichtlich angeordnete Adoption mit Folgen
Der Kläger wurde 1972 geboren. 1975 ließen seine Eltern sich scheiden. Nach dem Tod seiner allein erziehungsberechtigten Mutter im folgenden Jahr beantragte sein Vater die Übertragung des Erziehungsrechts und verwies auf seinen Ausreiseantrag. Beide Anträge wurden abgelehnt; der Kläger wurde in einer Pflegefamilie untergebracht. 1979 beantragten die Pflegeeltern die Adoption des Klägers. Sein aus politischen Gründen inhaftierter und anschließend in die Bundesrepublik entlassener Vater verweigerte die Einwilligung in die Adoption. Diese wurde 1981 gerichtlich ersetzt. 1982 beschloss der zuständige Jugendhilfeausschuss die Annahme des Klägers an Kindes statt durch seine Pflegeeltern. Deren Ehe wurde 1983 geschieden. Das Erziehungsrecht wurde dem Adoptivvater zugesprochen. Dieser wurde 1984 wegen wiederholter Misshandlung des Klägers zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Der Kläger wurde bis zum Erreichen seiner Volljährigkeit in verschiedenen Heimen und Jugendwerkhöfen untergebracht.
2014 beantragte er seine verwaltungsrechtliche Rehabilitierung wegen seiner Adoption, als deren Folge er heute noch unter schweren Gesundheitsschädigungen leide. Der Beklagte lehnte den Antrag 2019 ab, weil Adoptionen nicht der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung unterlägen. Der Klage auf Rehabilitierung hatte das Verwaltungsgericht (VG) allerdings ohne Ansprüche auf Beschädigtenversorgung stattgegeben.
Die Revision des Klägers hatte Erfolg. Der Beklagte ist verpflichtet, festzustellen, dass die Adoption des Klägers rechtsstaatswidrig war. Die hierfür einschlägige Vorschrift (§ 1 VwRehaG) ist auf Adoptionen in der ehemaligen DDR anwendbar mit der Maßgabe, dass bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen an die Stelle der Aufhebung der Adoption die Feststellung ihrer Rechtsstaatswidrigkeit tritt.
Die im Einigungsvertrag und im Bürgerlichen Gesetzbuch enthaltenen familienrechtlichen Vorschriften regeln die Aufhebung von Adoptionen abschließend, stehen jedoch einer Rehabilitierung in sonstiger Weise nicht entgegen. Die Betroffenen von einer solchen Rehabilitierung und den mit ihr verbundenen Versorgungsansprüchen auszuschließen, wäre auch vor dem Gleichbehandlungsgebot nicht zu rechtfertigen.
Adoption diente nicht dem Kindeswohl
Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Rehabilitierung des Klägers liegen vor. Seine Adoption war mit tragenden Grundsätzen eines Rechtsstaats schlechthin unvereinbar. Sie verstieß in schwerwiegender Weise gegen die Prinzipien der Gerechtigkeit und stellt sich als Willkürakt im Einzelfall dar, weil sie sachfremden Zwecken diente. Nach den Feststellungen des VG war sie nicht wie nach dem Familienrecht der DDR erforderlich am Kindeswohl orientiert, sondern diente dazu, den Vater des Klägers zu disziplinieren und eine gemeinsame Ausreise zu verhindern. Ihre Folgen wirken noch unmittelbar schwer und unzumutbar fort. Der Kläger hat schlüssig glaubhaft gemacht, dass seine fortwirkenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen wesentlich auf seine Adoption und seine Misshandlungen in der Adoptivfamilie zurückzuführen sind.
Quelle | BVerwG, Urteil vom 19.10.2023, 8 C 6.22, PM 74/23
| Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat entschieden, dass eine von einem Leichenumbetter vorgebrachte Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nicht als sogenannte „Wie-Berufskrankheit“ (also als einer Berufskrankheit gleichgestellt) anerkannt werden kann. Deshalb hatte der Kläger im Verfahren vor dem LSG auch keinen Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung. |
Berufsgenossenschaft stellte Erkrankung nicht mit Berufskrankheit gleich
Der im Jahr 1963 geborene Kläger war in den Jahren 1993 bis 2005 als Leichenumbetter beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V. tätig und führte in Mittel- und Osteuropa mit Schaufel und Bagger die Exhumierung und Identifizierung von Weltkriegstoten sowie von Toten der Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren durch. Zu seinen Aufgaben gehörte es, die Gebeine der Toten aus den Grabanlagen zu bergen, Alter, Geschlecht und soweit möglich die Todesursache zu bestimmen sowie Körperbau, Größe und gefundene Gegenstände zu protokollieren und fotografisch zu dokumentieren. Seit dem Jahr 2005 war er arbeitsunfähig erkrankt. Im Jahr 2017 wandte sich der Leichenumbetter an die beklagte Berufsgenossenschaft und trug vor, durch seine langjährige Tätigkeit sei es bei ihm zu gesundheitlichen Störungen mit einer lebenslangen Behinderung gekommen.
Die Berufsgenossenschaft lehnte es ab, seine Erkrankung einer Berufskrankheit gleichzustellen. Psychische Erkrankungen wie eine PTBS gehörten nicht zu den in der Berufskrankheiten-Liste aufgeführten Krankheiten. Die hiergegen gerichtete Klage des Leichenumbetters vor dem Sozialgericht (SG) Potsdam blieb ohne Erfolg.
Klage in zwei Instanzen ohne Erfolg
Das LSG hat die Entscheidung des SG jetzt bestätigt. Nach den aktuellen diagnostischen Kriterien (ICD-11) sei eine PTBS Folge eines extrem bedrohlichen oder entsetzlichen Ereignisses oder einer Reihe von entsprechenden Ereignissen. Diese Eingangsvoraussetzung sei nicht bereits durch die Berufsbezeichnung erfüllt, sondern es sei vielmehr auf die konkreten Einwirkungen abzustellen. Zudem ließen sich aus epidemiologischen Studien keine gesicherten Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft zum Zusammenhang zwischen den Tätigkeiten eines Leichenumbetters und einer PTBS ableiten. Hinsichtlich eines solchen Zusammenhangs fehle es bereits an statistisch relevanten Zahlen zur Gruppe der Leichenumbetter. Auf Studien zu Berufen, die ähnliche Belastungen mit sich bringen, wie etwa Zivil- und Militärbestatter, forensische Pathologen oder Mitarbeiter von Rettungsdiensten, könne mangels Übertragbarkeit nicht zurückgegriffen werden. Nicht ausreichend für die Anerkennung „wie eine Berufskrankheit“ sei die bloße Denkbarkeit bzw. Möglichkeit einer psychischen Belastung durch das langjährige Exhumieren, Bergen und Vermessen von Leichen und Leichenteilen.
Quelle | LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27.4.2023, L 21 U 231/19, PM vom 4.4.2023
| Das Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig hat klargestellt: Die Fahrt mit einem E-Scooter im Zustand der absoluten Fahruntüchtigkeit führt regelmäßig zu einer Entziehung der Fahrerlaubnis. |
Amtsgericht war noch milde gestimmt
Der Angeklagte befuhr in Göttingen in alkoholisiertem Zustand eine Straße mit einem E-Scooter. Bei einer Kontrolle stellten die Polizeibeamten einen Blutalkoholwert von 1,83 Promille fest. Das Amtsgericht (AG) verurteilte ihn daraufhin wegen Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe. Daneben verhängte es als weitere Strafe ein Fahrverbot, sah aber von einer Entziehung der Fahrerlaubnis ab. Zwar gelte nach dem Strafgesetzbuch (hier: § 69 StGB), dass ein Täter, der wegen Trunkenheit im Verkehr verurteilt wird, in der Regel als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen anzusehen sei. Jedoch habe der Angeklagte „nur“ einen E-Scooter verwendet und mit diesem lediglich eine kurze Strecke zurückgelegt.
Staatsanwaltschaft widersprach
Die Staatsanwaltschaft Göttingen hat dieses Urteil nicht akzeptiert. Das AG stelle bei seiner Entscheidung, von der Entziehung der Fahrerlaubnis abzusehen, rechtsfehlerhaft darauf ab, dass der Angeklagte nicht mit einem PKW, sondern mit einem E-Scooter gefahren sei. Dies widerspreche der gesetzgeberischen Wertung, wonach der E-Scooter als Kraftfahrzeug einzustufen und die Fahrerlaubnis beim Führen von Kraftfahrzeugen in fahruntüchtigem Zustand regelmäßig zu entziehen sei, so auch die Generalstaatsanwaltschaft Braunschweig in ihrer Antragsschrift.
Oberlandesgericht: Promillegrenze mindestens wie für Radfahrer
Dieser Argumentation ist das OLG nun gefolgt. Es ist ebenso wie bereits das AG von einer absoluten Fahruntüchtigkeit des Angeklagten ausgegangen. Dies folge daraus, dass der E-Scooter in seiner Fahreigenschaft und seinem Gefährdungspotenzial einem Fahrrad mindestens gleichzustellen sei und der Angeklagte den nach der obergerichtlichen Rechtsprechung für Fahrradfahrer geltenden Grenzwert von 1,6 Promille überschritten habe. Ob für E-Scooter auch der für Kraftfahrzeugführer geltende Grenzwert von 1,1 Promille gilt, musste das OLG danach nicht entscheiden.
Es lagen keine Ausnahmetatbestände vor
Aufgrund der Verurteilung wegen einer Trunkenheitsfahrt sei gemäß Strafgesetzbuch (§ 69 StGB) auch davon auszugehen, dass der Angeklagte zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei. Abweichend von der erstinstanzlichen Entscheidung hat das OLG nach dem bisher festgestellten Sachverhalt keine besonderen Umstände ausmachen können, die eine Ausnahme von dieser Regelvermutung rechtfertigten.
Ein E-Scooter sei ein Kraftfahrzeug im Sinne dieser Vorschrift. Damit greife die Regelvermutung zunächst einmal. Ob von dieser ausnahmsweise abzuweichen sei, sei von den Umständen des Einzelfalls abhängig. Allein die Art des Kraftfahrzeugs könne eine Ausnahme nicht begründen und auch nicht als stets mildernd berücksichtigt werden.
Ein Kilometer ist keine „Kurzfahrt“
Auch die weiteren vom AG angeführten Gründe tragen nicht die Annahme eines Ausnahmefalls. Insbesondere handele es sich bei einer Fahrtstrecke von einem Kilometer nicht um eine kurze Fahrt.
Quelle | OLG Braunschweig, Urteil vom 30.11.2023, 1 ORs 33/23, PM vom 15.12.2023
| Greift es in das elterliche Erziehungsrecht ein, wenn in einer Schule gegendert wird? Mit dieser Frage musste sich jetzt das Verwaltungsgericht (VG) Berlin befassen. |
Ein Vater wandte sich mit einem Eilantrag gegen die Verwendung einer genderneutralen Sprache an den Gymnasien seiner Kinder. Vor Gericht unterlag er jedoch.
Das VG: Vor dem Hintergrund des staatlichen Erziehungsauftrags in der Schule ist nicht erkennbar, dass das elterliche Erziehungsrecht mit der erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit verletzt ist und die Schulaufsicht einschreiten müsste. Genderneutrale Sprache in Lehrmaterialien überschreitet nicht den durch die Rahmenlehrpläne eingeräumten Spielraum bei der Gestaltung von Unterrichtsmaterialien. Dies gilt auch, weil genderneutrale Sprache Gegenstand von Unterrichtseinheiten ist. Eine genderneutrale Kommunikation der Schulen verstößt zudem nicht gegen die deutsche Amtssprache, da diese selbst bei Verwendung von Sonderzeichen hinreichend verständlich bleibt.
Der Vater konnte keine schweren und unzumutbaren Nachteile seiner Kinder durch die Schreib- und Sprechweise nachweisen, zumal der Spracherwerb bei den beiden Zehntklässlern weitgehend abgeschlossen sein dürfte.
Quelle | VG Berlin, Beschluss vom 24.3.2023, VG 3 L 24/23, Abruf-Nr. 234505 unter www.iww.de
| Vereinbaren Arbeitgeber und Arbeitnehmer Arbeit auf Abruf, legen aber die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit nicht fest, gilt grundsätzlich nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz (§ 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG) eine Arbeitszeit von 20 Stunden wöchentlich als vereinbart. Eine Abweichung davon kann im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung nur angenommen werden, wenn die gesetzliche Regelung nicht sachgerecht ist und objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, die Parteien hätten bei Vertragsschluss übereinstimmend eine andere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit gewollt. So hat es das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden. |
Arbeitnehmerin sah einen Annahmeverzug
Die Klägerin ist seit dem Jahr 2009 bei der Beklagten, einem Unternehmen der Druckindustrie, als „Abrufkraft Helferin Einlage“ beschäftigt. Der von ihr mit einer Rechtsvorgängerin der Beklagten geschlossene Arbeitsvertrag enthält keine Regelung zur Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit. Die Klägerin wurde wie die übrigen auf Abruf beschäftigten Arbeitnehmerinnen nach Bedarf in unterschiedlichem zeitlichen Umfang zur Arbeit herangezogen. Nachdem sich der Umfang des Abrufs ihrer Arbeitsleistung ab dem Jahr 2020 im Vergleich zu den unmittelbar vorangegangenen Jahren verringerte, hat die Klägerin sich darauf berufen, ihre Arbeitsleistung sei in den Jahren 2017 bis 2019 nach ihrer Berechnung von der Beklagten in einem zeitlichen Umfang von durchschnittlich 103,2 Stunden monatlich abgerufen worden. Sie hat gemeint, eine ergänzende Vertragsauslegung ergebe, dass dies die nun geschuldete und von der Beklagten zu vergütende Arbeitszeit sei. Soweit der Abruf ihrer Arbeitsleistung in den Jahren 2020 und 2021 diesen Umfang nicht erreichte, hat sie Vergütung wegen Annahmeverzugs verlangt.
Gerichtliche Instanzen mit unterschiedlicher Sichtweise
Das Arbeitsgericht (ArbG) hat ausgehend von der o. g. gesetzlichen Regelung angenommen, die Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit im Abrufarbeitsverhältnis der Parteien betrage 20 Stunden. Es hat deshalb der Klage auf Zahlung von Annahmeverzugsvergütung nur in geringem Umfang insoweit stattgegeben, als in einzelnen Wochen der Abruf der Arbeitsleistung der Klägerin 20 Stunden unterschritten hatte. Das Landesarbeitsgericht (LAG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die Revision der Klägerin, mit der sie an ihren weitergehenden Anträgen festgehalten hat, blieb vor dem BAG erfolglos.
Kein Umfang der Arbeitszeit vereinbart?
Vereinbaren Arbeitgeber und Arbeitnehmer, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen hat (Arbeit auf Abruf), müssen sie nach § 12 Abs. 1 S. 2 TzBfG arbeitsvertraglich eine bestimmte Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit festlegen.
Dann gelten laut Gesetz 20 Wochenstunden!
Unterlassen sie das, schließt § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG diese Reglungslücke, indem kraft Gesetzes eine Arbeitszeit von 20 Wochenstunden als vereinbart gilt. Eine davon abweichende Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit kann im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung nur dann angenommen werden, wenn die Fiktion des § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG im betreffenden Arbeitsverhältnis keine sachgerechte Regelung ist und objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, Arbeitgeber und Arbeitnehmer hätten bei Vertragsschluss bei Kenntnis der Regelungslücke eine andere Bestimmung getroffen und eine höhere oder niedrigere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit vereinbart. Für eine solche Annahme hat die Klägerin jedoch keine Anhaltspunkte vorgetragen.
Es steht den Parteien jederzeit frei, eine Vereinbarung zu treffen
Wird die anfängliche arbeitsvertragliche Lücke zur wöchentlichen Arbeitszeit bei Beginn des Arbeitsverhältnisses durch die gesetzliche Fiktion des § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG geschlossen, können die Parteien in der Folgezeit ausdrücklich oder konkludent eine andere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit vereinbaren. Dafür reicht aber das Abrufverhalten des Arbeitgebers in einem bestimmten, lange nach Beginn des Arbeitsverhältnisses liegenden und scheinbar willkürlich gegriffenen Zeitraum nicht aus. Allein dem Abrufverhalten des Arbeitgebers kommt kein rechtsgeschäftlicher Erklärungswert dahingehend zu, er wolle sich für alle Zukunft an eine von § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG abweichende höhere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit binden. Allein die Bereitschaft des Arbeitnehmers, in einem bestimmten Zeitraum mehr als nach § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG geschuldet zu arbeiten, rechtfertigt auch nicht die Annahme, der Arbeitnehmer wolle sich dauerhaft in einem höheren zeitlichen Umfang als gesetzlich vorgesehen binden.
Quelle | BAG, Urteil vom 18.10.2023, 5 AZR 22/23, PM 42/23
| Überholen darf nur, wer eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer vollständig ausschließen kann. Das ist beim Überholen einer Kolonne (hier hinter einem Traktor) oft nicht einfach. Wenn es in dieser Situation zum Unfall durch zwei ausscherende Fahrzeuge kommt, zahlen in der Regel beide Unfallbeteiligte, sagt das Landgericht (LG) Lübeck. |
Staubildung auf Landstraße Unfall beim Überholen
Auf einer Landstraße hatte sich hinter einem Traktor eine Kolonne gebildet. Ganz am Ende der Kolonne fuhr der Kläger und vor ihm noch zwei weitere Autos. Nachdem ein Überholverbot endete, begann der Kläger, die Kolonne von hinten links zu überholen. Als er schon auf der Höhe des Wagens direkt hinter dem Traktor war, scherte dessen Fahrerin ebenfalls zum Überholen aus. Der Kläger versuchte noch, auszuweichen und schrammte letztlich aufgrund des Manövers am Traktor entlang. Es entstanden erhebliche Schäden.
Gefährdung anderer ausgeschlossen?
Das Gericht legte seiner Entscheidung zugrunde, dass die ausscherende Fahrerin nur hätte überholen dürften, wenn die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen gewesen wäre. Die Fahrerin habe dies aber nicht beweisen können, denn bereits der Umstand, dass es zu dem Unfall gekommen sei, spräche dafür, dass sie gerade nicht gut genug aufgepasst habe.
Der Kläger hingegen habe die Kolonne grundsätzlich überholen dürfen. Zwar gelte die Regel, dass bei „unklarer Verkehrslage“ nicht überholt werden dürfe. Von einer unklaren Verkehrslage sei aber nur auszugehen, wenn sich für den nachfolgenden Fahrer nicht sicher beurteilen lasse, was der Vorausfahrende jetzt gleich tun werde. Hier sei jedoch nichts unklar gewesen. Nicht jede Kolonne sei per se eine „unklare Verkehrslage“. Und auch sonst seien im Prozess keine Umstände feststellbar gewesen, die gegen einen Überholversuch gesprochen hätten.
Verschuldensanteile
Trotzdem müsse sich der Kläger an dem Schaden beteiligen. Der Unfall sei auch für ihn nicht völlig unvermeidbar gewesen. Auch wenn das Überholen einer Kolonne nicht verboten sei, hätte ein „Idealfahrer“ dies angesichts der damit verbundenen Selbst- und Fremdgefährdung unterlassen. Die generelle Haftung eines Autofahrers (die sog. „Betriebsgefahr“) entfalle daher nicht völlig.
Im Ergebnis mussten die ausscherende Fahrerin 80 Prozent und der Kläger 20 Prozent des Schadens tragen.
Quelle | LG Lübeck, Urteil vom 28.7.2023, 9 O 27/21, PM vom 19.10.2023
| Mit dem Angebot eines Kitaplatzes, der per Auto 4,3 km bzw. mit dem Fahrrad 3,2 km vom Wohnort entfernt ist, hat die Stadt den Betreuungsanspruch eines zweijährigen Kindes erfüllt. So sieht es das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster. |
Kein „Rundum-Sorglospaket“ geschuldet
Das OVG: Die Stadt ist auch nicht verpflichtet, dem Kind einen Betreuungsplatz in einer näher gelegenen Einrichtung eines freien Trägers oder in anderen Wunscheinrichtungen zu verschaffen.
Allgemein gilt: Ob es zumutbar ist, vom Wohnort des Kindes aus eine Kita zu erreichen, hängt von den konkreten örtlichen Verhältnissen wie auch von allgemeinen und individuellen Bedarfsgesichtspunkten ab. Alle Transportmittel und Nahverkehrsverbindungen sind zu berücksichtigen. Selbst, wenn sich das Kind z. B. nur widerwillig anschnallen lässt, bleibt der angebotene Kitaplatz zumutbar. Es entspricht der Lebenswahrscheinlichkeit, dass das Kind seinen Widerwillen bei entsprechender Gewöhnung ablegen wird.
Keine Eilbedürftigkeit
Für den Anspruch, die Stadt solle gegenüber dem freien Träger der nahegelegenen Einrichtung auf eine Betreuung des Kindes hinwirken, fehlte es laut OVG schon an einer besonderen Eilbedürftigkeit, nachdem ein bedarfsgerechter und zumutbarer Kitaplatz angeboten worden ist.
Quelle | OVG Münster, Beschlüsse vom 28.9.2023, 12 B 683/23, 12 B 811/23, 12 B 854/23, Abruf-Nr. 237738 unter www.iww.de
| Wendet sich der Adressat einer Fahrtenbuchanordnung gegen die Verwertbarkeit der Geschwindigkeitsmessung mit einem standardisierten Messverfahren, kann er sich nicht mit Erfolg auf die teilweise Verweigerung des Zugangs zu Rohmessdaten berufen, wenn er nicht seinerseits alles ihm Zumutbare unternommen hat, um diesen Zugang zu erhalten. Das hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) nun entschieden. |
Zu schnell gefahren, Fahrer unbekannt, Fahrtenbuchauflage angeordnet
Der Kläger, gegen den die Anordnung ergangen war, ein Fahrtenbuch zu führen, begehrte im Nachhinein festzustellen, dass die Anordnung rechtswidrig war. Im Dezember 2018 wurde auf der Bundesautobahn A 8 mit einem mobilen Lasermessgerät des Typs VITRONIC Poliscan FM 1 gemessen, dass mit dem auf den Kläger zugelassenen Pkw die dort zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 41 km/h (nach Toleranzabzug) überschritten wurde. Der Fahrer des Fahrzeugs konnte nicht festgestellt werden. Daraufhin gab der Beklagte dem Kläger unter Anordnung des Sofortvollzugs auf, für die Dauer von sechs Monaten ein Fahrtenbuch zu führen. Der Kläger kam der Anordnung nach.
Antrag des Klägers zu spät?
Seine nach erfolglosem Widerspruch erhobene Klage mit dem Antrag, die Rechtswidrigkeit der Anordnung festzustellen, hat er damit begründet, dass die Geschwindigkeitsmessung nicht verwertbar sei, da das Messgerät keine Rohmessdaten speichere. Das Verwaltungsgericht (VG) hat die Klage abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat das Oberverwaltungsgericht (OVG) festgestellt, dass das Messgerät die Rohmessdaten gespeichert hatte. Der Kläger hat daraufhin geltend gemacht, diese Daten würden ihm von der Bußgeldstelle nicht vollständig zur Verfügung gestellt, obwohl das für eine effektive Rechtsverfolgung erforderlich sei. Das OVG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Behörden und Gerichte dürften auch bei der Entscheidung über eine Fahrtenbuchanordnung die Ergebnisse standardisierter Messverfahren zugrunde legen, solange der Betroffene keine substanziierten Einwände gegen die Richtigkeit der Messung erhebe.
Recht auf faires Verfahren
Um dem Betroffenen die Möglichkeit zu geben, die Richtigkeit der Messung zu überprüfen, gebiete das Recht auf ein faires Verfahren, ihm Zugang zu Rohmessdaten zu gewähren. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) müsse der Betroffene diesen Zugang aber rechtzeitig beantragt haben. Das sei hier nicht geschehen. Der Kläger habe seinen Antrag auf Zugang bei der Bußgeldstelle erst gestellt, als die Geltungsdauer der Fahrtenbuchanordnung bereits abgelaufen gewesen sei.
Keine konkreten Anhaltspunkte für einen Messfehler
Das BVerwG hat die Revision des Klägers zurückgewiesen. Nach der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) setzt eine Fahrtenbuchanordnung u.a. eine Zuwiderhandlung gegen Verkehrsvorschriften voraus. Mit seinem Einwand, die Geschwindigkeitsmessung sei nicht verwertbar, da ihm nicht auch die Rohmessdaten Dritter zur Überprüfung der Messung zur Verfügung gestellt worden seien, hatte der Kläger keinen Erfolg. Allerdings stand die Annahme des Berufungsgerichts, der Betroffene müsse den Zugang zu solchen Daten vor Ablauf der Geltungsdauer der Fahrtenbuchanordnung beantragt haben, nicht im Einklang mit Bundesrecht. Eine solche zeitliche Grenze lässt sich den maßgeblichen bundesrechtlichen Regelungen nicht entnehmen.
Kläger hat sich zu wenig bemüht
Doch stellte sich das Berufungsurteil aus anderen Gründen als richtig dar. Konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler hatte der Kläger nicht wie erforderlich gezeigt. Ist bei einer Geschwindigkeitsmessung ein standardisiertes Messverfahren zum Einsatz gekommen, folgt aus dem Recht auf ein faires Verfahren zwar ein Anspruch auch des von einer Fahrtenbuchanordnung Betroffenen auf Zugang zu bei der Bußgeldstelle vorhandenen Daten. Es obliegt jedoch ihm, alle zumutbaren Schritte zu unternehmen, um seinen Zugangsanspruch geltend zu machen und durchzusetzen. Nur, wenn er das getan hat, kann es ein Gebot des fairen Verfahrens sein, ihm nicht die Möglichkeit zu nehmen, auf der Grundlage der begehrten Informationen konkrete Anhaltspunkte für einen Messfehler vorzutragen.
Der Kläger hat nicht alles ihm Zumutbare getan, um an die gewünschten Daten zu gelangen. Die Bußgeldstelle hat ihm u.a. die seinen PKW betreffenden Rohmessdaten zur Verfügung gestellt, nicht aber wie beantragt zusätzlich die Rohmessdaten der gesamten Messreihe, also nicht auch die Daten zu anderen Verkehrsteilnehmern und die Statistikdatei. Rechtliche Schritte, um den behaupteten umfassenden Zugangsanspruch gegenüber der Bußgeldstelle durchzusetzen, hat er nicht unternommen.
Quelle | BVerwG, Urteil vom 2.2.2023, 3 C 14.21, PM 11/23