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Monats-Archive: September 2022

Geschwindigkeitsüberschreitung: 41 km/h zu schnell: Absehen vom Fahrverbot nur bei besonderer Härte

| Das Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um mindestens 41 km/h indiziert grundsätzlich das Verhängen eines Fahrverbots von einem Monat. Davon kann nur abgesehen werden, wenn Anhaltspunkte für eine außergewöhnliche Härte vorliegen. Der Verlust des Arbeitsplatzes kann eine solche Härte darstellen. Dies bedarf jedoch der ausführlichen Begründung und Darlegung der zugrundliegenden Tatsachen. Die kritiklose Übernahme der Einlassung des Betroffenen durch den Tatrichter oder bloße Vermutungen genügen nicht. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat deshalb ein amtsgerichtliches Urteil aufgehoben, mit dem das im Bußgeldbescheid verhängte Fahrverbot aufgehoben worden war. |

Das Amtsgericht war milde

Der Betroffene überschritt die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn A 3 um mindestens 43 km/h. Gegen ihn wurde daher nach der damals gültigen Bußgeldkatalogverordnung eine Geldbuße in Höhe von 160 Euro und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Auf seinen Einspruch hin setzte das Amtsgericht (AG) die Geldbuße auf 320 Euro fest und hob das Fahrverbot auf. Der Betroffene hatte u.a. darauf hingewiesen, seit dem 1.10.2021 als Berufskraftfahrer zu arbeiten und sich noch in der Probezeit zu befinden. Ihm könne deshalb ohne Begründung gekündigt werden. Dies sei zu befürchten, wenn ein Fahrverbot festgesetzt werde. Das AG sah deshalb das Fahrverbot als besondere Härte an.

Fahrverbot: Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme

Wegen der dagegen eingelegten Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft hob das OLG den sog. Rechtsfolgenausspruch auf. Die Feststellungen des AG deckten nicht die Voraussetzungen dafür, vom Fahrverbot abzusehen. Die Ordnungswidrigkeit werde mit einer Regelgeldbuße von 160 Euro und einem Regelfahrverbot von einem Monat belegt. Das OLG: Bei dieser Zuwiderhandlung ist ein grober bzw. beharrlicher Pflichtverstoß indiziert, dessen Ahndung, abgesehen von besonderen Ausnahmen, eines Fahrverbots als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme bedarf.

Sei trotz eines Regelfalls ein Fahrverbot unangemessen, könne zwar hiervon abgesehen werden, z. B. wenn dem Betroffenen infolge des Fahrverbots der Verlust seines Arbeitsplatzes drohe. Insoweit fehlten jedoch tragfähige Urteilsfeststellungen. Die Feststellungen des AG beruhten allein auf den Angaben des Betroffenen. Aus welchen Gründen diese glaubhaft sind, sei nicht dargelegt. Es sei auch nicht erkennbar, ob Zweifel am Zutreffen dieser Angaben des Betroffenen aufgekommen seien.

So geht es weiter

Das OLG hat die Sache an das AG zurückverwiesen. Dieses muss nun weitere Feststellungen zur Frage treffen, ob das Fahrverbot im konkreten Fall eine besondere Härte darstellen würde.

Quelle | OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 26.4.2022, 3 Ss-OWi 415/22, PM 39/22 vom 5.5.2022

Verkehrsvergehen: Rotlichtverstoß mit einem SUV rechtfertigt höheres Bußgeld

| Das Amtsgericht (AG) Frankfurt am Main hat entschieden: Bei Rotlichtverstößen mit einem sog. Sport Utility Vehicle (SUV) kann eine Erhöhung der Regelgeldbuße angemessen sein. |

Der Betroffene fuhr in Frankfurt mit seinem Fahrzeug, einem SUV, das von seiner Bauart dadurch von normalen Kraftfahrzeugen in der Art abweicht, dass es über eine erhöhte Bodenfreiheit verfügt, in den durch die Lichtzeichenanlage geregelten Kreuzungsbereich ein. Die Rotphase dauerte zu diesem Zeitpunkt bereits länger als 1,1 Sekunden. Das AG sah aufgrund der besonderen Fahrzeugbeschaffung im konkreten Fall eine Erhöhung der hierfür durch den geltenden Bußgeldkatalog vorgesehenen Regelgeldbuße. Diese sei durch die erhöhte Betriebsgefahr des verwendeten Kraftfahrzeugs gerechtfertigt, dessen kastenförmige Bauweise und erhöhte Frontpartie das Verletzungsrisiko für andere Verkehrsteilnehmer erhöhe. Aufgrund der größeren abstrakten Gefährdung durch das Tatfahrzeug stelle sich nach Auffassung des AG der begangene Rotlichtverstoß gravierender als der Normalfall dar.

Quelle | AG Frankfurt a. M., Urteil vom 3.6.2022, 974 OWi 533 Js-OWi 18474/22, PM 6/22

Wiederholte Verkehrsdelikte: So wird man seinen Ferrari los

| Ende 2021 hatte das Landgericht (LG) Hannover einen Mann wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Darüber hinaus hatte es insbesondere die Einziehung des Kraftfahrzeugs des Angeklagten angeordnet eines Ferraris mit einem geschätzten Wert von 70.000 bis 100.000 Euro. Die hiergegen von dem Angeklagten eingelegte Revision hat das Oberlandesgericht (OLG) Celle nun verworfen. |

Das OLG folgte dabei in vollem Umfang der Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft. Insbesondere hielt es die Einziehung für verhältnismäßig.

Der Angeklagte war bereits wiederholt wegen Verkehrsdelikten in Erscheinung getreten. Die in Frage stehende Tat hatte er nur kurze Zeit nach dem Erlass eines Strafbefehls wegen einer Trunkenheitsfahrt begangen. Neben dem Straftatbestand des Fahrens ohne Fahrerlaubnis hatte er Verkehrsordnungswidrigkeiten in Form eines Rotlichtverstoßes und einer Geschwindigkeitsüberschreitung verwirklicht. Zudem war er noch kurz vor der erstinstanzlichen amtsgerichtlichen Verurteilung wiederum ohne Fahrerlaubnis mit einem anderen Pkw gefahren. Die Einziehung des Ferraris vernichte entgegen der Darstellung des Angeklagten auch nicht dessen wirtschaftliche Existenz. Das Urteil ist damit rechtskräftig.

Quelle | OLG Celle, Beschluss vom 27.4.2022, 2 Ss 46/22, PM vom 2.5.2022

Preisminderung: Bezeichnung eines Ausstellungsfahrzeugs als Neuwagen

| Das Amtsgericht (AG) München verurteilte einen Automobilhersteller, im Wege der Minderung 1.000 Euro des bereits gezahlten Kaufpreises eines Sportwagens an die Klägerin wieder zurückzuzahlen. |

Das war geschehen

Die Klägerin erwarb Ende des Jahres 2019 in einer Münchner Niederlassung des Automobilherstellers einen Sportwagen mit einem Listenpreis von 61.788,90 Euro für 54.604,10 Euro. Der Pkw, der bereits 2018 produziert worden war, befand sich zurzeit des Kaufs in einer anderen Niederlassung des Automobilherstellers. Dort war der Sportwagen ausgestellt und konnte von Besuchern besichtigt werden. Zugelassen oder gefahren worden war das Fahrzeug nicht. Nur etwa einen Monat, nachdem die Klägerin ihren Wagen erhalten hatte, musste sie die Pannenhilfe in Anspruch nehmen, weil die Batterie defekt war. Zudem stellte sie Kratzer, kleinere Dellen und Abschürfungen, etwa an den Einstiegsleisten, fest.

Fahrzeug fabrikneu oder gebraucht?

Die Klägerin meint, sie habe anstatt eines fabrikneuen ein gebrauchtes Fahrzeug erhalten. Der ihr übergebene Wagen sei bereits benutzt und darüber hinaus auch beschädigt gewesen. Man habe ihr beim Kauf gesagt, dass sie ein Lagerfahrzeug kaufe, das aus einer anderen Niederlassung überführt werden müsse. Davon, dass dieses dort auch ausgestellt worden sei, habe sie jedoch nichts gewusst. Sie forderte daher eine Minderung des Kaufpreises in Höhe von 5.000 Euro.

Die Beklagte war der Ansicht, es handle sich trotz der vorherigen Ausstellung des Pkw noch um ein Neufahrzeug, denn schließlich sei dieses erstmals auf die Klägerin zugelassen worden. Es seien auch keine Probefahrten damit durchgeführt worden. Daher sei das Auto neu und kein Vorführwagen. Die beschädigte Batterie ersetzte die Beklagte bereits vor Prozessbeginn.

So sah es das Amtsgericht

Das AG gab der Klägerin grundsätzlich Recht: „Der gegenständliche Pkw war nach Wertung der hier konkret vorliegenden Umstände kein Neuwagen. Ein Fahrzeug ist dann ein Neuwagen, wenn es unbenutzt ist, das Modell des Fahrzeugs unverändert weitergebaut wird, es keine durch längere Standzeit bedingten Mängel aufweist und wenn zwischen Herstellung des Fahrzeugs und Abschluss des Kaufvertrags nicht mehr als 12 Monate liegen.“ Das Gericht ging davon aus, dass ein „unbenutztes“ Kraftfahrzeug nicht nur bedeutet, dass es wie hier noch nicht zugelassen bzw. noch nicht gefahren wurde, sondern dass auch eine anderweitige Benutzung des Fahrzeugs dazu führen kann, dass es nicht mehr als „unbenutzt“ im Sinne der Neuwagendefinition des Bundesgerichtshofs (BGH) gilt.

Ausstellungsfahrzeug: nicht unbenutzt im Sinne von Neuwagendefinition

Bei Ausstellung eines Fahrzeugs in einer Niederlassung wird es jedenfalls von einer unbestimmten Anzahl von Personen innen und außen angefasst, Türen und Kofferraum werden vielfach geöffnet, es wird probegesessen, Sitze werden verstellt etc. Ein Ausstellungsfahrzeug in einer Niederlassung eines Automobilherstellers unterliegt somit einer wiederholten körperlichen Nutzung und ist daher nach Überzeugung des Gerichts nicht mehr unbenutzt.

5.000 Euro Minderung waren zu hoch angesetzt

Lediglich in der Höhe ihrer Forderung musste die Klägerin Abstriche machen. Eine Minderung um 5.000 Euro erschien dem Gericht überhöht. Bei Minderung ist der Kaufpreis in dem Verhältnis herabzusetzen, in dem zurzeit des Vertragsschlusses der Wert der Sache in mangelfreiem Zustand zu dem wirklichen Wert gestanden haben würde; die Minderung ist, soweit erforderlich, nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 441 Abs. 3 BGB) durch Schätzung zu ermitteln. Das AG schätzte hier den Minderungsbetrag auf 1.000 Euro. Dabei ließ es u. a. einfließen, dass einerseits die Vereinbarung „Neuwagen“ ein feststehender Begriff mit besonderer Relevanz beim Autokauf sei, andererseits jedoch bei Vertragsschluss bereits ein erheblicher Abschlag vom Listenpreis gewährt worden sei.

Quelle | AG München, Urteil vom 17.12.2021, 271 C 8389/21, PM 8/22 vom 25.2.2022

Erbschaftsteuer: Urenkel sind keine Enkel: Das gilt auch im Steuerrecht

| Urenkel haben auch bei Vorversterben beider vorangegangener Generationen keinen Anspruch auf einen höheren Freibetrag als den von 100.000 Euro nach dem Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz (ErbStG). Das hat das Finanzgericht (FG) Niedersachsen entschieden. |

Die Erblasserin hatte eine Stieftochter und einen Stiefenkel, den Vater der Klägerin, die beide vor dem Tod der Erblasserin verstorben sind. Das Finanzamt berücksichtigte einen Freibetrag von 100.000 Euro nach § 16 Abs. 1 Nr. 4 ErbStG, die Klägerin begehrte allerdings erfolglos den Ansatz des Freibetrags von 200.000 Euro nach § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG, da sowohl ihr Vater als auch ihre Großmutter bereits vorverstorben seien. Der Freibetrag für Kinder verstorbener Kinder gelte auch für Urenkel. Doch das FG sah das anders. Das FG folgt damit der bereits im AdV-Beschluss (AdV=Antrag auf Aussetzung der Vollziehung) des Bundesfinanzhofs (BFH) vorgenommenen Auslegung, sodass der BFH voraussichtlich eine Revision zurückweisen dürfte. Bei Schenkungen durch vermögende Urgroßeltern sollte also darauf geachtet werden, dass der für jeweils ein Urenkelkind vorgesehene Anteil den Freibetrag von 100.000 Euro nicht überschreitet, damit Freibeträge optimal ausgeschöpft werden können.

Das FG hat die Revision zugelassen.

Quelle | FG Niedersachsen, Urteil vom 28.2.2022, 3 K 210/21, Abruf-Nr. 229084 unter www.iww.de

Unterhaltsverpflichtung: Höhe des Kindesunterhalts und mietfreies Wohnen

| Die Zuweisung einer gemeinsamen Ehewohnung nach Scheidung eines kinderlosen Ehepaars richtet sich vorrangig danach, wer stärker auf ihre Nutzung angewiesen ist. Sind beide Ehegatten querschnittsgelähmt, sind in die Abwägung insbesondere der Grad der Pflegebedürftigkeit sowie die sozialen Bindungen an das Umfeld einzubeziehen. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat die vom Amtsgericht (AG) ausgesprochene Zuweisung der Wohnung an den früheren Ehegatten bestätigt, da er u.a. im höheren Maße auf pflegerische Unterstützung angewiesen ist und die Wohnung in seinem früheren Elternhaus liegt. |

Das war geschehen

Die Beteiligten heirateten 2005 und sind seit einem Jahr rechtskräftig geschieden. Die Ehe blieb kinderlos. Sie streiten um die Überlassung der in ihrem Miteigentum befindlichen Ehewohnung anlässlich ihrer Scheidung. Die 130 qm große Wohnung befindet sich im Elternhaus des Antragstellers. Sie verfügt über Wohn- und ein Schlafzimmer, Küche, Flur, einen Anbau und zwei behindertengerechte Bäder. Gegenwärtig nutzen der Antragsteller das Schlafzimmer und ein Bad und die Antragsgegnerin das Wohnzimmer und ein Bad.

Der Antragsteller ist seit 1984 querschnittsgelähmt und auf tägliche Pflege in Form der Unterstützung bei der An- und Entkleidung sowie beim Toilettengang angewiesen. Seine seit 2018 beschäftigte Pflegekraft ist mittlerweile seine Lebensgefährtin. Die Antragsgegnerin ist seit 1976 querschnittsgelähmt und ebenfalls, wenn auch nicht im selben Umfang, auf eine Pflegekraft angewiesen. Sie benötigt keine Hilfe beim Toilettengang.

So sahen es die Gerichte

Das AG hatte die Antragsgegnerin verpflichtet, dem Antragsteller die Wohnung ab dem 1.7.2022 zur alleinigen Nutzung zu überlassen. Das OLG verlängerte die Frist bis zum 1.11.2022 und wies im Übrigen die Beschwerde der Antragsgegnerin zurück. Ein Ehegatte könne die Überlassung der Ehewohnung anlässlich der Scheidung u.a. dann verlangen, wenn er auf deren Nutzung in stärkerem Maße angewiesen ist als der andere oder aus anderen Gründen der Billigkeit. Dabei seien alle die Lebensverhältnisse der Ehegatten bestimmenden Umstände in eine Gesamtabwägung einzubeziehen. Hier sei der Antragsteller insbesondere wegen der erforderlichen Anwesenheit einer Pflegeperson auf eine größere Wohnung angewiesen als die Antragsgegnerin. Der Pflegebedarf des Antragstellers übersteige den der Antragsgegnerin.

Der Antragsteller habe bereits vor Einzug der Antragsgegnerin in der Wohnung gewohnt und sei in dem Ort, an dem er seit 1987 lebe, sozial verwurzelt. Sein Bruder wohne ebenfalls im Haus. Zu berücksichtigen sei, dass der Antragsteller eine in der Nähe wohnende Lebensgefährtin habe. Trotz der besseren wirtschaftlichen Verhältnisse sei er stärker auf die Nutzung der Ehewohnung angewiesen als die Antragsgegnerin, die nicht über vergleichbare Bindungen im Ort verfüge.

Ehemann hatte höheres Schutzbedürfnis

Ergänzend sei zu berücksichtigen, dass im Rahmen der Billigkeitsabwägung auch dem schützenswerten Interesse des Antragstellers, im elterlichen Haus wohnen zu bleiben, erhebliches Gewicht zukomme. Dass die Antragsgegnerin an der Finanzierung des Wohnungskaufs beteiligt gewesen sei, könne den höheren sozialen Bezug des Antragstellers zur bewohnten Wohnung nicht mindern. Die Überlassungsfrist sei jedoch wegen der erheblichen Schwierigkeiten der Antragsgegnerin, angesichts ihrer körperlichen Einschränkungen angemessenen Ersatzwohnraum zu finden, bis November zu verlängern. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Quelle | OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 18.5.2022, 6 UF 42/22, PM 43/22

Ehescheidung: Zwei querschnittsgelähmte Ehegatten: Wohnungszuweisung

| Die Zuweisung einer gemeinsamen Ehewohnung nach Scheidung eines kinderlosen Ehepaars richtet sich vorrangig danach, wer stärker auf ihre Nutzung angewiesen ist. Sind beide Ehegatten querschnittsgelähmt, sind in die Abwägung insbesondere der Grad der Pflegebedürftigkeit sowie die sozialen Bindungen an das Umfeld einzubeziehen. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat die vom Amtsgericht (AG) ausgesprochene Zuweisung der Wohnung an den früheren Ehegatten bestätigt, da er u.a. im höheren Maße auf pflegerische Unterstützung angewiesen ist und die Wohnung in seinem früheren Elternhaus liegt. |

Das war geschehen

Die Beteiligten heirateten 2005 und sind seit einem Jahr rechtskräftig geschieden. Die Ehe blieb kinderlos. Sie streiten um die Überlassung der in ihrem Miteigentum befindlichen Ehewohnung anlässlich ihrer Scheidung. Die 130 qm große Wohnung befindet sich im Elternhaus des Antragstellers. Sie verfügt über Wohn- und ein Schlafzimmer, Küche, Flur, einen Anbau und zwei behindertengerechte Bäder. Gegenwärtig nutzen der Antragsteller das Schlafzimmer und ein Bad und die Antragsgegnerin das Wohnzimmer und ein Bad.

Der Antragsteller ist seit 1984 querschnittsgelähmt und auf tägliche Pflege in Form der Unterstützung bei der An- und Entkleidung sowie beim Toilettengang angewiesen. Seine seit 2018 beschäftigte Pflegekraft ist mittlerweile seine Lebensgefährtin. Die Antragsgegnerin ist seit 1976 querschnittsgelähmt und ebenfalls, wenn auch nicht im selben Umfang, auf eine Pflegekraft angewiesen. Sie benötigt keine Hilfe beim Toilettengang.

So sahen es die Gerichte

Das AG hatte die Antragsgegnerin verpflichtet, dem Antragsteller die Wohnung ab dem 1.7.2022 zur alleinigen Nutzung zu überlassen. Das OLG verlängerte die Frist bis zum 1.11.2022 und wies im Übrigen die Beschwerde der Antragsgegnerin zurück. Ein Ehegatte könne die Überlassung der Ehewohnung anlässlich der Scheidung u.a. dann verlangen, wenn er auf deren Nutzung in stärkerem Maße angewiesen ist als der andere oder aus anderen Gründen der Billigkeit. Dabei seien alle die Lebensverhältnisse der Ehegatten bestimmenden Umstände in eine Gesamtabwägung einzubeziehen. Hier sei der Antragsteller insbesondere wegen der erforderlichen Anwesenheit einer Pflegeperson auf eine größere Wohnung angewiesen als die Antragsgegnerin. Der Pflegebedarf des Antragstellers übersteige den der Antragsgegnerin.

Der Antragsteller habe bereits vor Einzug der Antragsgegnerin in der Wohnung gewohnt und sei in dem Ort, an dem er seit 1987 lebe, sozial verwurzelt. Sein Bruder wohne ebenfalls im Haus. Zu berücksichtigen sei, dass der Antragsteller eine in der Nähe wohnende Lebensgefährtin habe. Trotz der besseren wirtschaftlichen Verhältnisse sei er stärker auf die Nutzung der Ehewohnung angewiesen als die Antragsgegnerin, die nicht über vergleichbare Bindungen im Ort verfüge.

Ehemann hatte höheres Schutzbedürfnis

Ergänzend sei zu berücksichtigen, dass im Rahmen der Billigkeitsabwägung auch dem schützenswerten Interesse des Antragstellers, im elterlichen Haus wohnen zu bleiben, erhebliches Gewicht zukomme. Dass die Antragsgegnerin an der Finanzierung des Wohnungskaufs beteiligt gewesen sei, könne den höheren sozialen Bezug des Antragstellers zur bewohnten Wohnung nicht mindern. Die Überlassungsfrist sei jedoch wegen der erheblichen Schwierigkeiten der Antragsgegnerin, angesichts ihrer körperlichen Einschränkungen angemessenen Ersatzwohnraum zu finden, bis November zu verlängern. Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Quelle | OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 18.5.2022, 6 UF 42/22, PM 43/22

Freiheitsrecht: Lange Unterbringung muss gut begründet werden

| Die regelmäßige Höchstfrist der geschlossenen Unterbringung beläuft sich auf ein Jahr. Soll eine Unterbringung darüber hinaus, z. B. eine solche von bis zu zwei Jahren genehmigt oder angeordnet werden, ist diese Abweichung vom Regelfall im Hinblick auf den hohen Rang des Rechts auf Freiheit der Person ausreichend zu begründen. Das hat nun der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden. |

Das war geschehen

Für den Betroffenen bestand seit einigen Jahren eine Betreuung. Er war auch mehrere Jahre in stationärer psychiatrischer Behandlung. Er leidet an einem hirnorganischen Psychosyndrom nach einem durch einen Verkehrsunfall bedingten Schädel-Hirn-Trauma sowie langjähriger Alkoholabhängigkeit mit Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen. Das Amtsgericht (AG) hat wiederholt die Unterbringung genehmigt. Der letzte Beschluss war auf eine Unterbringung von knapp zwei Jahren gerichtet. Die Beschwerde des Betroffenen dagegen war erfolglos, seine Rechts-beschwerde beim BGH hingegen erfolgreich.

Der BGH beanstandete die Unterbringung als solche nicht. Eine zivilrechtliche Unterbringung durch einen Betreuer wegen Selbstgefährdung des Betroffenen verlange keine akute, unmittelbar bevorstehende Gefahr. Notwendig sei aber eine ernstliche und konkrete Gefahr für dessen Leib oder Leben. So könne etwa auch eine völlige Verwahrlosung ausreichen, wenn damit eine Gesundheitsgefahr durch körperliche Verelendung und Unterversorgung verbunden ist.

Hohe Hürden für Überschreitung der Regeldauer von einem Jahr

Nur bei offensichtlich langer Unterbringungsbedürftigkeit dürfe aber abweichend von der Regeldauer von einem Jahr eine Unterbringung von bis zu zwei Jahren beschlossen werden. Dies könne nur unter besonderen Voraussetzungen erfolgen und sei ausreichend zu begründen. Solche Gründe könnten sich etwa aus konkreten Feststellungen über die Dauer einer notwendigen Therapie oder aus fehlenden Heilungs- und Besserungsaussichten bei anhaltender Eigengefährdung ergeben.

Dies muss für das Gericht deutlich und erkennbar hervortreten. Hierzu hatte das Landgericht (LG) keine Feststellungen getroffen. Folge: Seine Entscheidung war rechtsfehlerhaft.

Quelle | BGH, Beschluss vom 30.3.2022, XII ZB 35/22, Abruf-Nr. 229352 unter www.iww.de

Gleichheitsgrundsatz: Grundschullehrer haben keinen Anspruch, wie Studienräte besoldet zu werden

| Erhalten Grundschullehrer nicht die gleiche Besoldung wie Studienräte, ist ihre Besoldung nicht zu niedrig. Das hat das Verwaltungsgericht (VG) Düsseldorf entschieden und damit die Klagen zweier Grundschullehrerinnen abgewiesen. |

Die Klägerinnen sind als Beamtinnen auf Lebenszeit in die Besoldungsgruppe A 12 eingestuft. Sie begehren die Einstufung in die mit einem höheren Grundgehalt ausgewiesene Besoldungsgruppe A 13 sowie die Gewährung einer Studienratszulage. Sie sind der Auffassung, dass sowohl ihre Ausbildungen als auch ihre ausgeübten Tätigkeiten sich von denen der mit A 13 zuzüglich einer Studienratszulage besoldeten Studienräte mit der Befähigung für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen nicht oder jedenfalls nicht mehr so wesentlich unterscheiden, dass die ungleiche Besoldungshöhe im Eingangsamt berechtigt sei.

Hintergrund der Klageverfahren ist die Änderung der Lehrerausbildung in Nordrhein-Westfalen, die seit Inkrafttreten des Lehrerausbildungsgesetzes (LABG) 2009 für alle Lehramtsbefähigungen den Abschluss eines Bachelor- und eines Masterstudiengangs sowie die erfolgreiche Absolvierung eines Vorbereitungsdienstes verlangt und in weiten Teilen angeglichen wurde. Eine Klägerin absolvierte ihre Ausbildung nach den Regelungen des LABG 2009. Die andere Klägerin studierte im Rahmen des zuvor durchgeführten Modellversuchs „Gestufte Studiengänge in der Lehrerausbildung“, in dem die Angleichung noch nicht vollständig umgesetzt war.

Die Kammer hat die Klagen abgewiesen. Die Besoldung sei nicht zu niedrig bemessen. Die Einstufungen der Lehrerinnen in die Besoldungsgruppe A 12 stehe mit dem Verfassungsrecht in Einklang. Die Verknüpfung der Funktion der Lehrer mit der Lehramtsbefähigung für Grund-, Haupt- und Realschulen mit einem (Einstiegs-)Amt der Besoldungsgruppe A 12 sei wegen des weiten Gestaltungsspielraums, der dem Gesetzgeber in diesem Bereich eröffnet sei, nicht zu beanstanden. Insbesondere sei der Gleichheitsgrundsatz nicht verletzt, weil trotz der (durch das LABG 2009) weitgehend angeglichenen Bildungsvoraussetzungen für die verschiedenen Lehrämter inhaltliche Unterschiede zwischen den Lehramtsbefähigungen bestünden. Zudem unterscheide sich der Berufsalltag von Lehrern mit der Lehramtsbefähigung für Grund-, Haupt- und Realschulen von dem der Studienräte mit der Befähigung für das Lehramt an Gymnasien und Gesamtschulen in einem Maße, das die abweichende Einstufung in die Besoldungsgruppen A 12 und A 13 als sachgerecht rechtfertige und nicht willkürlich sei. Im Rahmen des Modellversuchs „Gestufte Studiengänge in der Lehrerausbildung“ habe es zudem maßgebliche Unterschiede in der Ausbildung gegeben.

Gegen die Entscheidung kann die Berufung beim Oberverwaltungsgericht (OVG) eingelegt werden, die das VG wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugelassen hat.

Quelle | VG Düsseldorf, Urteile vom 13.5.2022, 26 K 9086/18 und 26 K 9087/18, PM vom 13.5.2022

Bundesarbeitsgericht: Beweislast im Überstundenvergütungsprozess

| Der Arbeitnehmer muss zur Begründung einer Klage auf Vergütung geleisteter Überstunden erstens darlegen, dass er Arbeit in einem die Normalarbeitszeit übersteigenden Umfang geleistet oder sich auf Weisung des Arbeitgebers hierzu bereitgehalten hat. Zweitens muss der Arbeitnehmer vortragen, dass der Arbeitgeber die geleisteten Überstunden ausdrücklich oder konkludent angeordnet, geduldet oder nachträglich gebilligt hat, da der Arbeitgeber Vergütung nur für von ihm veranlasste Überstunden zahlen muss. Diese vom Bundesarbeitsgericht (BAG) entwickelten Grundsätze zur Verteilung der Darlegungs- und Beweislast für die Leistung von Überstunden durch den Arbeitnehmer und deren Veranlassung durch den Arbeitgeber werden durch die auf Unionsrecht beruhende Pflicht, ein System zur Messung der vom Arbeitnehmer geleisteten täglichen Arbeitszeit einzuführen, nicht verändert. |

Das war geschehen

Der Kläger war als Auslieferungsfahrer bei der Beklagten beschäftigt, die ein Einzelhandelsunternehmen betreibt. Seine Arbeitszeit erfasste der Kläger mittels technischer Zeitaufzeichnung, wobei nur Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit, nicht jedoch die Pausenzeiten aufgezeichnet wurden. Zum Ende des Arbeitsverhältnisses ergab die Auswertung der Zeitaufzeichnungen einen positiven Saldo von 348 Stunden zugunsten des Klägers. Mit seiner Klage hat der Kläger Überstundenvergütung von über 5.000 Euro brutto verlangt. Er hat geltend gemacht, er habe die gesamte aufgezeichnete Zeit gearbeitet. Es sei nicht möglich gewesen, Pausen zu nehmen, weil sonst die Auslieferungsaufträge nicht hätten abgearbeitet werden können. Die Beklagte hat dies bestritten.

So sahen es die Vorinstanzen

Das Arbeitsgericht (ArbG) hat der Klage stattgegeben. Es hat gemeint, durch das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH), wonach die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen, werde die Darlegungslast im Überstundenvergütungsprozess modifiziert. Die positive Kenntnis von Überstunden als eine Voraussetzung für deren arbeitgeberseitige Veranlassung sei jedenfalls dann nicht erforderlich, wenn der Arbeitgeber sich die Kenntnis durch Einführung, Überwachung und Kontrolle der Arbeitszeiterfassung hätte verschaffen können. Ausreichend für eine schlüssige Begründung der Klage sei, die Zahl der geleisteten Überstunden vorzutragen. Da die Beklagte ihrerseits nicht hinreichend konkret die Inanspruchnahme von Pausenzeiten durch den Kläger dargelegt habe, sei die Klage begründet.

Das Landesarbeitsgericht (LAG) hat das Urteil des ArbG geändert und die Klage mit Ausnahme bereits von der Beklagten abgerechneter Überstunden abgewiesen.

Bundesarbeitsgericht: Pauschale Behauptung reicht nicht aus

Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers hatte vor dem BAG keinen Erfolg. Das LAG hatte richtig erkannt, dass vom Erfordernis der Darlegung der arbeitgeberseitigen Veranlassung und Zurechnung von Überstunden durch den Arbeitnehmer auch nicht vor dem Hintergrund der genannten Entscheidung des EuGH abzurücken ist. Diese ist zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie (Richtlinie 2003/88/EG) und gemäß der Charta der Grundrechte der EU (Art. 31 GRCh) ergangen. Nach gesicherter Rechtsprechung des EuGH beschränken sich diese Bestimmungen darauf, Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Sie sind indes grundsätzlich nicht auf die Vergütung der Arbeitnehmer anzuwenden. Die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit wirke sich deshalb nicht auf die nach deutschem materiellen und Prozessrecht entwickelten Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenvergütungsprozess aus. Hiervon ausgehend hat das LAG zutreffend angenommen, der Kläger habe nicht hinreichend konkret dargelegt, dass es erforderlich gewesen sei, ohne Pausenzeiten durchzuarbeiten, um die Auslieferungsfahrten zu erledigen. Die bloße pauschale Behauptung ohne nähere Beschreibung des Umfangs der Arbeiten genügt hierfür nicht. Das Berufungsgericht konnte daher offenlassen, ob die von der Beklagten bestrittene Behauptung des Klägers, er habe keine Pausen gehabt, überhaupt stimmt.

Quelle | BAG, Urteil vom 4.5.2022, 5 AZR 359/21, PM 16/22; EuGH, Urteil vom 14.5.2019, C-55/18 [CCOO]