Marcus Spiralski Rechtsanwalt

Fachanwalt für Arbeitsrecht & Fachanwalt für Familienrecht

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Urteilsarchiv

Sozialversicherungsbeiträge: Obstbauer kann Beitragspflicht für Erntehelfer nicht umgehen

| Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat den koordinierten Beschäftigtentausch als Sparmodell für Sozialversicherungsbeiträge für unzulässig erklärt. |

Darum ging es

Ausgangspunkt war die Klage eines niedersächsischen Obstbauern, der einen Betrieb für Apfelanbau führt und an einem weiteren Betrieb für Erdbeeranbau beteiligt ist. Seine Erntehelfer beschäftigt er formal ganzjährig im Apfelanbau. Sie erhalten dort einen festen Monatslohn auf Basis eines Jahresarbeitsstundensolls. In der Zeit von Mai bis Juli wurden die Helfer jedoch im Erdbeerbetrieb eingesetzt. Auf den Lohn dieser Arbeit zahlte der Bauer keine Sozialversicherungsbeiträge, da er die Arbeit als zeitgeringfügige Aushilfstätigkeit betrachtete. Während der Apfelernte im Herbst verfuhr er bei jeweils wechselnder Arbeitsfreistellung mit den Beschäftigten des Erdbeerbetriebs in ähnlicher Weise.

Kurzzeitige Saisonaushilfen oder berufsmäßige Beschäftigte?

Die Deutsche Rentenversicherung (DRV) kam nach einer Betriebsprüfung zu dem Ergebnis, dass die Mitarbeiter nicht nur kurzzeitige Saisonaushilfen seien, sondern berufsmäßig Beschäftigte, für die rd. 58.000 Euro Sozialversicherungsbeiträge nachzuentrichten seien.

Bauer reklamierte für sich „angepasste Gestaltung“

Hiergegen klagte der Bauer und meinte, dass in rechtlich selbstständigen Betrieben eine Arbeitnehmertätigkeit im Hauptberuf und eine kurzzeitige Beschäftigung bei einem weiteren Arbeitnehmer möglich und erlaubt sei. Steigende Preise und politische Unsicherheiten würden eine angepasste Gestaltung notwendig machen.

Landessozialgericht spricht Klartext

Das LSG hat die Rechtsauffassung der DRV bestätigt. Zur Begründung hat es auf die Berufsmäßigkeit der Helfer abgestellt, die eine Beitragspflicht für die gesamte Tätigkeit auslöse. Das praktizierte Modell verfolge zielgerichtet das Bestreben, über wechselseitige betriebliche Absprachen und mittels langfristig geplanter und aufeinander abgestimmter organisatorischer und vertraglicher Maßnahmen rund ein Drittel des Jahreseinkommens der Arbeitskräfte der Beitragspflicht zur gesetzlichen Sozialversicherung zu entziehen. Die Gefahr der Altersarmut aufseiten der Erntehelfer sei von den Arbeitgebern sehenden Auges hingenommen worden. Die sozialrechtlichen Vorgaben ließen keinen Raum für eine entsprechende Beitragsverkürzung.

Quelle | LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 20.12.2023, L 2 BA 59/23, PM vom 5.2.2024

Verkehrsstrafen: Doppeltes Fahrverbot bei doppeltem Verkehrsverstoß

| Das Amtsgericht (AG) Frankfurt am Main hat entschieden: Ein Fahrverbot ist auch dann festzusetzen, wenn gegen den Autofahrer bereits ein Fahrverbot wegen einer ähnlich gelagerten, kurz zuvor begangenen, Ordnungswidrigkeit vollstreckt wurde. |

Nach den Feststellungen des Gerichts in einem Bußgeldverfahren hielt der betroffene Pkw-Führer fahrlässig den erforderlichen Mindestabstand zu dem vor ihm fahrenden Fahrzeug nicht ein. Der Abstand betrug nach den Feststellungen des Amtsgerichts weniger als 3/10 des halben Tachowertes. Etwa sechs Wochen vor diesem Verstoß hatte der Autofahrer an derselben Messstelle ebenfalls den Mindestabstand unterschritten. Deswegen war gegen ihn ein Fahrverbot von einem Monat festgesetzt worden. Dieses Fahrverbot hatte der Autofahrer im Zeitpunkt der nun durchgeführten Hauptverhandlung bereits vollständig verbüßt.

Das AG verhängte nach durchgeführter Beweisaufnahme gegen den Autofahrer wegen der Abstandsunterschreitung ein Bußgeld nebst einem weiteren Fahrverbot von einem Monat. Dass der Autofahrer in der Zwischenzeit bis zur Verhandlung bereits ein Fahrverbot wegen einer kurz zuvor an derselben Stelle begangenen Abstandsunterschreitung verbüßt hatte, sei kein ausreichender Grund, von dem weiteren Fahrverbot abzusehen.

Das Fahrverbot solle als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme für den jeweiligen Verkehrsverstoß auf den Betroffenen spezialpräventiv wirken. Diese Funktion werde unterlaufen, wenn von dem Fahrverbot abgesehen werde. Der Autofahrer sei durch die getrennte Ahndung der beiden Verkehrsverstöße auch nicht schlechter gestellt. Zwar hätte bei einer gemeinsamen Aburteilung der beiden Verstöße nur ein Fahrverbot festgesetzt werden können. Wegen der besonders beharrlichen Neigung des Autofahrers, Verkehrsregeln zu überschreiten, wäre in diesem Fall aber allein ein zweimonatiges Fahrverbot tat- und schuldangemessen gewesen.

Quelle | AG Frankfurt am Main, Urteil vom 17.11.2023, 971 OWi 916 Js 59363/23, PM 2/24

Einladungspflicht: Kein Vorstellungsgespräch trotz Schwerbehinderung: Evangelischer Kirchenkreis ist kein öffentlicher Arbeitgeber

| Eine kirchliche Körperschaft des öffentlichen Rechts ist nicht zur Einladung schwerbehinderter Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch verpflichtet. Das Sozialrecht (hier: § 165 S. 3 Sozialgesetzbuch IX (SGB IX)) sieht die grundsätzliche Einladungspflicht nur für öffentliche Arbeitgeber vor. Eine kirchliche Körperschaft des öffentlichen Rechts ist kein öffentlicher Arbeitgeber. Das entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG). |

Schwerbehinderten nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen

Der schwerbehinderte Kläger hatte sich um eine Stelle in der Verwaltung eines Kirchenkreises der Evangelischen Kirche im Rheinland beworben. Trotz Offenlegung seiner Schwerbehinderung wurde er nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Seine Bewerbung blieb erfolglos.

Lag Diskriminierung vor?

Nach Ansicht des Klägers wurde er im Auswahlverfahren wegen seiner Schwerbehinderung diskriminiert. Dies indiziere die unterbliebene Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Hierzu sei der Kirchenkreis nach der o. g. Vorschrift verpflichtet gewesen. Als Körperschaft des öffentlichen Rechts gelte er als öffentlicher Arbeitgeber. Mit seiner Klage hat der Kläger deshalb die Zahlung einer Entschädigung verlangt. Der beklagte Kirchenkreis hat dies abgelehnt. Er sei kein öffentlicher Arbeitgeber. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.

Bundesarbeitsgericht spricht Klartext

Die hiergegen gerichtete Revision des Klägers hatte vor dem BAG keinen Erfolg. Die Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keine Benachteiligung wegen seiner Schwerbehinderung dargelegt.

Eine solche kann nicht aufgrund der unterbliebenen Einladung zu einem Vorstellungsgespräch vermutet werden. Hierzu war der beklagte Kirchenkreis nicht verpflichtet. Die Einladungspflicht besteht zwar u. a. für Körperschaften des öffentlichen Rechts. Dies betrifft aber nach dem allgemeinen verwaltungsrechtlichen Begriffsverständnis nur Körperschaften, die staatliche Aufgaben wahrnehmen. Kirchliche Körperschaften des öffentlichen Rechts dienen demgegenüber primär der Erfüllung kirchlicher Aufgaben. Der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts soll dabei die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der Religionsgesellschaft unterstützen. Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber die Einladungspflicht auf kirchliche Körperschaften des öffentlichen Rechts erstrecken wollte. Insoweit stehen sie den ebenfalls staatsfernen privaten Arbeitgebern gleich.

Quelle | BAG, Urteil vom 25.1.2024, 8 AZR 318/22, PM 2/24

Beweismittel: Schulungsnachweis für Auswerter einer Geschwindigkeitsmessung?

| Häufig wird für den Bediener eines Geschwindigkeitsmessgeräts ein Nachweis darüber verlangt, dass er in der Bedienung des Geräts ausreichend geschult ist. Fraglich ist, ob dieses Erfordernis auch für den „Auswerter“ einer Messung gilt. Das hat das Kammergericht Berlin (KG) verneint. |

Für die Auswertungsperson sei ein förmlicher Schulungsnachweis nicht zwingend erforderlich. Sie habe das Messgerät nicht bedient und Beweismittel weder beschafft noch verändert. Ob die mit der Auswertung der Messdaten betraute Person ihre Aufgabe kompetent und zuverlässig erfüllt habe, unterliege vielmehr der freien richterlichen Beweiswürdigung. Es greife im Grundsatz auch ohne Formalnachweis die Richtigkeitsvermutung standardisierter Messverfahren.

Quelle | KG, Urteil vom 18.9.2023, 3 ORbs 170/23 – 162 Ss 85/23, Abruf-Nr. 238704 unter www.iww.de

Diskriminierungsverbot: Kündigung eines Schwerbehinderten in der Wartezeit

| Das Arbeitsgericht (ArbG) Köln hat entschieden, dass die Kündigung eines Schwerbehinderten in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses diskriminierend im Sinne des Sozialgesetzbuchs IX (hier: § 164 Abs. 2 SGB IX) ist. Sie kann damit unwirksam sein, wenn der Arbeitgeber das Präventionsverfahren nach dem Sozialgesetzbuch (§ 167 Abs. 1 SGB IX) nicht durchgeführt hat. |

Der mit einem Grad der Behinderung von 80 schwerbehinderte Kläger ist seit dem 1.1.2023 bei der beklagten Kommune als „Beschäftigter im Bauhof“ beschäftigt. Der Kläger wurde zwischen dem 2.1. und 14.4.2023 in verschiedenen Kolonnen des Bauhofs eingesetzt und war ab Ende Mai arbeitsunfähig. Am 22.6.2023 kündigte die Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis zum 31.7.2023.

Das ArbG hat entschieden: Die Kündigung verstößt gegen das Diskriminierungsverbot des § 164 Abs. 2 SGB IX und ist damit unwirksam. Der Arbeitgeber sei entgegen bisheriger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) auch während der Wartezeit gemäß Kündigungsschutzgesetz (hier: § 1 Abs. 1 KSchG) verpflichtet, das o.g. Präventionsverfahren durchzuführen.

§ 167 Abs. 1 SGB IX regelt, dass möglichst frühzeitig als Präventionsmaßnahme die Schwerbehindertenvertretung sowie das Integrationsamt einzuschalten sind, wenn Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis eintreten, die zur Gefährdung dieses Verhältnisses führen können. Dies habe die Arbeitgeberin hier nicht getan. Sie hätte, als sie bemerkte, dass der schwerbehinderte Kläger sich während der Wartezeit wie sie vorträgt nicht bewährte bzw. sich nicht ins Team einfügte und ihren Erwartungen nicht entsprach, Präventionsmaßnahmen ergreifen und gegebenenfalls die Schwerbehindertenvertretung sowie das Integrationsamt präventiv einschalten müssen.

Quelle | ArbG Köln, Urteil vom 20.12.2023, 18 Ca 3954/23, PM 2/24

Europäischer Gerichtshof: Familienzusammenführung mit einem minderjährigen Flüchtling

| Ein als Flüchtling anerkannter unbegleiteter Minderjähriger hat das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern, auch wenn er während des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist. Unter den außergewöhnlichen Umständen eines aktuellen Falls des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) muss auch der volljährigen Schwester dieses Flüchtlings, die aufgrund einer schweren Krankheit die dauerhafte Unterstützung ihrer Eltern benötigt, ein Einreise- und Aufenthaltstitel zuerkannt werden. |

Die Kernaussage

Der EuGH stellte klar, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling auch dann das Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern hat, wenn er während des Verfahrens auf Familienzusammenführung volljährig geworden ist. Die Familienzusammenführung muss sich ausnahmsweise auf eine volljährige Schwester erstrecken, wenn diese aufgrund einer schweren Krankheit die ständige Unterstützung ihrer Eltern benötigt. Andernfalls würde dem Flüchtling de facto sein Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern genommen. Dieses Recht darf nicht der Voraussetzung unterliegen, dass der minderjährige Flüchtling oder seine Eltern über Wohnraum, eine Krankenversicherung und ausreichende Einkünfte für sie und die Schwester verfügen.

Die Details des Falls

Nachdem einem unbegleiteten minderjährigen Syrer in Österreich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war, beantragten seine Eltern und seine volljährige Schwester Aufenthaltstitel, um zu ihm ziehen zu können. Die österreichischen Behörden wiesen diese Anträge ab, weil der junge Syrer nach Stellung der Anträge volljährig geworden war, ebenso wie spätere Anträge auf Familienzusammenführung. Die Eltern und die Schwester fochten die Bescheide, mit denen die zuletzt genannten Anträge zurückgewiesen wurden, beim Verwaltungsgericht Wien an. Dieses hat den EuGH um Auslegung der Richtlinie betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ersucht. Es führt u. a. aus, dass die Schwester aufgrund einer Zerebralparese vollständig und dauerhaft auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen sei, so dass die Eltern sie nicht allein in Syrien lassen könnten.

Eigener Schutz für Flüchtlinge

Der EuGH erinnerte daran, dass die Richtlinie Flüchtlingen einen eigenen Schutz gewährt. Aufgrund ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit begünstigt sie im Speziellen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, indem sie ihnen das Recht auf Familienzusammenführung mit ihren Eltern einräumt.

Recht auf Familienzusammenführung

Erstens stellte der EuGH fest, dass ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der während des Verfahrens auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern volljährig wird, das Recht auf eine solche Familienzusammenführung hat. Dieses Recht darf nämlich nicht von der mehr oder weniger schnellen Bearbeitung des Antrags abhängen. Folglich darf der Antrag nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass der Flüchtling zum Zeitpunkt der Entscheidung über diesen Antrag nicht mehr minderjährig ist.

Eltern konnten schwerbehinderte Tochter nicht allein zurücklassen

Zweitens erläuterte der EuGH, dass dem minderjährigen Flüchtling wegen der Krankheit seiner Schwester, wenn dieser kein Recht auf Familienzusammenführung mit ihrem Bruder gleichzeitig mit ihren Eltern gewährt würde, de facto sein Recht auf Familienzusammenführung mit seinen Eltern genommen würde, da es den Eltern nicht möglich ist, zu ihrem Sohn zu ziehen, ohne ihre Tochter mitzunehmen. Ein solches Ergebnis wäre aber mit dem unbedingten Charakter dieses Rechts unvereinbar und würde dessen praktische Wirksamkeit in Frage stellen, was sowohl dem Ziel der Richtlinie betreffend das Recht auf Familienzusammenführung als auch den Anforderungen zuwiderlaufen würde, die sich aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in Bezug auf die Achtung des Privat- und Familienlebens sowie die Rechte Minderjähriger ergeben und deren Einhaltung diese Richtlinie sicherstellen muss.

Keine überzogenen Anforderungen

Der EuGH stellte drittens fest, dass weder vom minderjährigen Flüchtling noch von seinen Eltern verlangt werden darf, dass sie für sich und für die schwer kranke Schwester über ausreichend großen Wohnraum, eine Krankenversicherung sowie hinreichende Einkünfte verfügen. Es ist nämlich nahezu unmöglich, dass ein minderjähriger unbegleiteter Flüchtling diese Voraussetzungen erfüllt. Ebenso ist es für die Eltern eines solchen Minderjährigen äußerst schwierig, diese Voraussetzungen zu erfüllen, bevor sie zu ihrem Kind gezogen sind. Die mögliche Familienzusammenführung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge mit ihren Eltern von der Erfüllung dieser Voraussetzungen abhängig zu machen, würde somit in Wirklichkeit darauf hinauslaufen, diesen Minderjährigen ihr Recht auf eine solche Zusammenführung zu nehmen.

Quelle | EuGH, Urteil vom 30.1.2024, C-560/20, PM 19/24

Kostenbeitragsverordnung: Kfz-Kosten einkommensmindernd bei jugendhilferechtlichem Kostenbeitrag

| Bei der Erhebung eines jugendhilferechtlichen Kostenbeitrags können die Kosten eines Kraftfahrzeugs nach unterhaltsrechtlichen Maßstäben einkommensmindernd zu berücksichtigen sein. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschieden. |

Sohn erhielt Eingliederungshilfe

Der beklagte Landkreis gewährte für den Sohn der Klägerin Eingliederungshilfe in Form der vollstationären Unterbringung nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) und zog die Klägerin zu einem Kostenbeitrag aus ihrem Einkommen heran. Mit ihrer gegen die Höhe des Kostenbeitrags gerichteten Klage machte sie insbesondere geltend, dass für die mit ihrem Kfz durchgeführten Fahrten zu ihrer Arbeitsstätte höhere Kosten sowie die unter anderem auf die Anschaffung des Kfz entfallenden Kosten eines Kredits hätten einkommensmindernd berücksichtigt werden müssen.

Die Klage hatte sowohl vor dem Verwaltungsgericht (VG) als auch vor dem Oberverwaltungsgericht (OVG) Erfolg. Die Vorinstanzen haben die beruflich bedingten Fahrtkosten nach unterhaltsrechtlichen Maßstäben ermittelt und auch die geltend gemachten Finanzierungskosten für das genutzte Kfz vollumfänglich einkommensmindernd berücksichtigt. Hiergegen wandte sich der Beklagte mit seiner Revision. Das BVerwG hat nun das Urteil des OVG aufgehoben und die Sache an dieses zurückverwiesen.

Belastungen sind abzuziehen

Nach den gesetzlichen Regelungen (hier: §§ 91 ff. SGB VIII) zieht der Jugendhilfeträger Eltern aus ihrem Einkommen in angemessenem Umfang zu den Kosten heran, wenn er für ihr Kind vollstationäre Eingliederungshilfe erbringt. Weil die teil- bzw. vollstationären Angebote auch die Sicherstellung des notwendigen Unterhalts des untergebrachten Kindes oder jungen Menschen umfassen und insoweit zum Erlöschen der darauf gerichteten zivilrechtlichen Unterhaltsansprüche führen, tritt der öffentlich-rechtliche Kostenbeitrag an die Stelle von Ansprüchen gegen einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen. Für die Festsetzung der Kostenbeiträge bestimmt die Kostenbeitragsverordnung nach Einkommensgruppen gestaffelte Pauschalbeträge. Vom Einkommen sind Belastungen des kostenbeitragspflichtigen Elternteils in Höhe von 25 vom Hundert des Einkommens abzuziehen. Höhere Belastungen können abgezogen werden, soweit sie nach Grund und Höhe angemessen sind und die Grundsätze einer wirtschaftlichen Lebensführung nicht verletzen. In Betracht kommen insbesondere mit der Erzielung des Einkommens verbundene notwendige Ausgaben sowie Schuldverpflichtungen, die der Kostenbeitragspflichtige nachzuweisen hat.

Unterhaltsrechtliche Maßstäbe entscheidend

Danach können auch Kosten für die Fahrt mit dem eigenen Kfz zur Arbeitsstätte einkommensmindernd zu berücksichtigen sein. Diese Kosten sind nicht nach sozialhilfe- oder steuerrechtlichen, sondern nach unterhaltsrechtlichen Maßstäben zu ermitteln. Sie kommen insbesondere in den unterhaltsrechtlichen Leitlinien desjenigen Oberlandesgerichts (OLG) zum Ausdruck, das für die gegen den Elternteil gerichtete Geltendmachung des Unterhaltsanspruchs zuständig wäre. Dementsprechend sind diese Belastungen regelmäßig in Form einer sämtliche Kfz-Kosten (einschließlich Finanzierung) erfassenden Wegstreckenpauschale sowohl für den Weg zur Arbeitsstätte als auch für den Heimweg anzusetzen.

Dafür spricht vor allem, dass der Gesetzgeber mit der Schaffung der Berechnungsregelungen auch den Zweck verfolgte, Wertungswidersprüche zum Unterhaltsrecht zu vermeiden und die Kostenbeteiligung insofern an den Unterhaltsanspruch des Kindes anzulehnen, der Grund und Grenze der Kostenbeitragspflicht darstellt.

Daneben können Kfz-Finanzierungskosten einkommensmindernd zu berücksichtigen sein, wenn und soweit die Haltung eines Kfz außerhalb der bereits durch die Wegstreckenpauschale vollständig abgedeckten Nutzung für den Arbeitsweg nach unterhaltsrechtlichen Maßstäben anzuerkennen ist. Eine doppelte Berücksichtigung von Finanzierungskosten ist auszuschließen. Soweit die Belastungen angemessen sind und die Grundsätze einer wirtschaftlichen Lebensführung nicht verletzen, sind sie ohne Ermessensspielraum der Behörde einkommensmindernd zu berücksichtigen.

Da das OVG zu den maßgeblichen tatsächlichen Verhältnissen hinsichtlich der Kfz-Nutzung sowie zu weiteren als einkommensmindernd geltend gemachten Positionen keine hinreichenden Feststellungen getroffen hat, war die Sache an dieses zurückzuverweisen.

Quelle | BVerwG, Urteil vom 18.1.2024, 5 C 13.22, PM 1/24

Verkehrssicherungspflicht: Über Wurzelschaden auf Radweg gestürzter Rennradfahrer erhält keinen Schadenersatz von Gemeinde

| Das Landgericht (LG) Frankenthal hat die gegen eine Gemeinde gerichtete Schadenersatzklage eines Rennradfahrers abgewiesen, der auf einem Radweg aufgrund von Wurzelschäden gestürzt war. Ein Radfahrer müsse seine Fahrweise so einrichten, dass er sichtbare Hindernisse auf einem Radweg rechtzeitig wahrnehmen und vor ihnen anhalten kann, so das LG. |

Grundsätze der Verkehrssicherungspflicht

Grundsätzlich muss der, der eine Gefahrenquelle (z. B. eine aus dem Boden ragende Baumwurzel) schafft oder eine solche andauern lässt, notwendige und zumutbare Vorkehrungen treffen, um eine Schädigung anderer zu verhindern (sog. „Verkehrssicherungspflicht“). Er muss Gefahren ausräumen oder vor ihnen warnen.

Ausnahmen von der Verkehrssicherungspflicht

Dies gilt jedoch nur, soweit sie für andere trotz aufmerksamen Verhaltens im Straßenverkehr nicht erkennbar oder nicht beherrschbar sind. Die Anforderungen an die Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht für einen Radweg bemessen sich an einem normalen Radfahrer mit einer üblichen Geschwindigkeit.

Rennradfahrer muss besonders vorsichtig sein

Ein Rennradfahrer muss von sich aus besonders vorsichtig fahren, da er mit seinen dünnen Reifen bei Unebenheiten im Boden besonders gefährdet ist. Vorliegend seien die Wurzelschäden nach Ansicht der Kammer gut und rechtzeitig erkennbar gewesen.

Wurzelschäden waren sichtbar

Das LG: Der Wegabschnitt habe auch an anderen Stellen Unebenheiten, wie Bodenschwellen, Risse oder eben Wurzelschäden aufgewiesen, sodass Schäden auch an der Unfallstelle nicht überraschend gewesen sein könnten. Ein konzentrierter Radfahrer hätte sein Fahrverhalten an die vorgefundenen Hindernisse anpassen können und müssen. Aufgrund der ausreichenden Erkennbarkeit der Wurzelschäden sei auch eine Warnung bspw. durch ein Hinweisschild nicht erforderlich gewesen.

Auch ein unter Umständen störendes Licht- und Schattenspiel auf dem Radweg wegen eines ungünstigen Sonnenstands, weswegen der Rennradfahrer das Hindernis nicht erkannt haben will, ändere daran nichts. Auf witterungsbedingte Umstände müsse sich ein Radfahrer einstellen und dementsprechend noch vorsichtiger fahren.

Das Urteil ist rechtskräftig.

Quelle | LG Frankenthal, Urteil vom 31.8.2023, 3 O 71/22, PM vom 29.12.2023

Vaterschaftsfeststellung: Nutzen einer Dating-Plattform begründet keinen Zweifel an Vaterschaft

| Ein Kennenlernen über eine Dating-Plattform allein begründet keine schwerwiegenden Zweifel gegen die gesetzliche Vaterschaftsvermutung wegen Verdachts des Mehrverkehrs. So entschied es das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt a. M. |

Wer ist Vater des Kindes?

Die Antragstellerin begehrte vor dem Amtsgericht (AG) festzustellen, dass der B. ihr Vater ist. Dies stellte das AG antragsgemäß fest.

Die hiergegen eingelegte Beschwerde des B. hatte vor dem OLG nach einer Beweisaufnahme und Einholen eines Abstammungsgutachtens keinen Erfolg. Das OLG: Die Übereinstimmung sämtlicher untersuchter genetischer Merkmale von Mutter, Kind und B. zusammen mit den im Verfahren gewonnenen Erkenntnissen zur Beiwohnung der Mutter seitens des B. im fraglichen Zeitraum machten die Vaterschaft so wahrscheinlich, dass sich daraus ein überaus hoher Grad an Gewissheit für diese ergebe.

Die Mutter habe glaubhaft bekundet, dass der B. ihr „während der gesetzlichen Empfängniszeit … beigewohnt hat“. Damit bestehe bereits eine gesetzliche Vermutung für die Vaterschaft.

Keine schwerwiegenden Zweifel an der Vaterschaft

Der Vortrag des B. führe zu keinen schwerwiegenden Zweifeln an seiner Vaterschaft. Für derartige schwerwiegende Zweifel reiche ein nur möglicher, aber weder wahrscheinlicher noch bewiesener Mehrverkehr nicht aus. Insbesondere aus der Tatsache, dass sich die Mutter der Antragstellerin und B. über ein Internetportal kennengelernt hätten, dränge sich nicht auf, dass die Mutter in der Empfängniszeit noch mit anderen geschlechtlich verkehrt habe. Genauere Angaben des B. dazu, mit welchen Personen, wann und wo die Mutter der Antragstellerin Geschlechtsverkehr gehabt haben soll, fehlten.

Aus dem im Beschwerdeverfahren eingeholten Sachverständigengutachten errechne sich zudem eine Wahrscheinlichkeit für die Vaterschaft des B. von über 99,99 %. An der Zuverlässigkeit und Verwertbarkeit des Gutachtens bestünden keine Zweifel.

Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Quelle | OLG Frankfurt a. M., Beschluss vom 1.2.2024, 1 UF 75/22, PM 18/24

Straßenverkehrsordnung: Keine Pflicht zum Bilden einer Rettungsgasse auf nur autobahnähnlicher innerörtlicher Straße?

| Die Straßenverkehrsordnung (hier: § 11 Abs. 2 StVO) sieht vor, dass auf einer Autobahn oder Außerortsstraße ggf. eine (Rettungs-)Gasse zur Durchfahrt von Polizei- oder Hilfsfahrzeugen gebildet werden muss. Das Amtsgericht (AG) Augsburg hatte diese Pflicht auch für eine Bundesstraße bejaht. Es hat den Betroffenen zu einer Geldbuße von 240 Euro verurteilt und ein Fahrverbot von einem Monat verhängt. Das hat das Bayerische Oberste Landesgericht (BayObLG) jetzt nicht mitgemacht. |

Wortlaut des Gesetzes entscheidend

Es hat die Verurteilung aufgehoben. Die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse gilt dem eindeutigen Wortlaut der o. g. Vorschrift nach nicht für den innerstädtischen Verkehr auf einer Bundesstraße.

Amtsgericht überschritt Grenzen bei der Auslegung

Ein autobahnähnlicher Ausbau ändere daran nichts. Es überschreite die Grenzen zulässiger Auslegung, entgegen dem Gesetzeswortlaut (des § 11 Abs. 2 StVO) die Pflicht zur Bildung einer Rettungsgasse auf einer autobahnähnlich ausgebauten innerörtlichen Straße anzunehmen.

Verstoß gegen andere Vorschrift möglich

Aber Achtung: Wer innerorts keine Rettungsgasse bildet, könnte gegen eine andere Vorschrift der StVO verstoßen (hier: § 38 Abs. 1 S. 2, § 49 Abs. 3 Nr. 3 StVO). Bei Verwendung des blauen Blinklichts zusammen mit dem Einsatzhorn müssen alle übrigen Verkehrsteilnehmer sofort freie Bahn schaffen. Um zu klären, ob dies im Fall des AG Augsburg so war, hat das BayObLG das Verfahren an das AG zurückverwiesen.

Quelle | BayObLG, Beschluss vom 26.9.2023, 201 ObOWi 971/23, Abruf-Nr. 238702 unter www.iww.de