Marcus Spiralski Rechtsanwalt

Fachanwalt für Arbeitsrecht & Fachanwalt für Familienrecht

Urteilskategorie

Urteilsarchiv

Jobrad: Weg zur Wartung kann unfallversichert sein

| Ein Arbeitnehmer ist unfallversichert, wenn er ein Fahrrad, das sein Arbeitgeber für ihn geleast hat, außerhalb seiner eigentlichen Arbeitszeit, aber in Erfüllung einer vertraglichen Pflicht und mit bestimmten Vorgaben des Arbeitgebers zu einer alljährlichen Inspektion in eine Vertragswerkstatt bringt. Das entschied das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg und gab der verunfallten Arbeitnehmerin recht. |

Die Arbeitnehmerin ließ das ihr zur Verfügung gestellte E-Bike warten. Zur Abholung ging sie nach der Arbeit zu Fuß von ihrer Arbeitsstätte zur Werkstatt. Dort übernahm sie das Rad und fuhr damit in Richtung ihrer Wohnung los. Noch in derselben Straße, an der auch die Werkstatt liegt, öffnete der Fahrer eines am Straßenrand parkenden Pkw die Autotür, ohne auf den Verkehr zu achten, woraufhin die Klägerin gegen die Tür stieß und stürzte. Sie wurde mit dem Rettungswagen in die Klinik gebracht und dort drei Tage stationär behandelt. Der weitere Heilungsverlauf gestaltete sich schwierig.

Die Klägerin absolvierte eine mehrfach verlängerte stationäre Rehabilitation. Ihre unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit dauerte rund acht Monate. Nach dem letzten aktenkundigen medizinischen Befundbericht war die Klägerin weiterhin nur mit Unterarmgehstützen mobil, die Streckung und Beugung des linken Knies waren erheblich verringert; auch die Beweglichkeit des linken (oberen) Sprunggelenks war eingeschränkt.

Die Versicherung lehnte es ab, einen Arbeitsunfall anzuerkennen. Hierauf klagte die Arbeitnehmerin und erhielt vom LSG Recht. Das Gericht stellte fest: Überbürdet der Arbeitgeber im Rahmen eines Jobrad-Modells eine spezifische Pflicht zur alljährlichen Wartung des von ihm geleasten Rades seinen Beschäftigten durch vorformulierte Vertragsklauseln und macht er diesen konkrete Vorgaben hierfür, ist die Wartung eine versicherte dienstliche Tätigkeit. Verunglückt der Beschäftigte auf dem Weg von einer solchen Jahreswartung seines Fahrrads nach Hause, liegt ein versicherter Wegeunfall vor.

Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Rechtsfrage, um die es hier ging, habe grundsätzliche Bedeutung.

Quelle | LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.10.2021, L 1 U 779/21, Abruf-Nr. 227027 unter www.iww.de

Sonderkündigungsschutz: Kurierfahrer als Mitglied eines Wahlvorstands

| Ein Arbeitnehmer eines Kurierdienstes und Mitglied des Wahlvorstands muss trotz ausgesprochener Kündigung vorläufig beschäftigt werden. Das hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes entschieden. |

Der Kurierdienst erklärte gegenüber einem als „Rider“ beschäftigten Arbeitnehmer eine außerordentliche Kündigung und macht zur Begründung geltend, der Rider habe sich an einem illegalen Streik beteiligt. Der Arbeitnehmer hat im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes seine weitere tatsächliche Beschäftigung verlangt und geltend gemacht, er müsse auch vor der bisher noch ausstehenden Entscheidung des Arbeitsgerichts (ArbG) über diese Kündigung vorläufig weiterbeschäftigt werden. Die Kündigung sei offensichtlich unwirksam, weil er Mitglied des Wahlvorstands für die anstehende Betriebsratswahl gewesen sei.

Das LAG hat dem Antrag des Arbeitnehmers für die Zeit bis zum Ablauf der vereinbarten Befristung seines Arbeitsverhältnisses anders als zuvor das Arbeitsgericht stattgegeben und ausgeführt, der erforderliche Verfügungsanspruch und Verfügungsgrund liege vor. Es sei von einer offensichtlichen Unwirksamkeit der außerordentlichen Kündigung auszugehen.

Der Arbeitnehmer sei gemäß den von ihm glaubhaft gemachten Angaben zum maßgeblichen Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung Mitglied des Wahlvorstands gewesen und werde damit von dem besonderen Kündigungsschutz erfasst. Die aufgrund dieses Sonderkündigungsschutzes für eine Kündigung erforderliche vorherige gerichtliche Zustimmungsersetzung liege nicht vor. Da von einem fortbestehenden Arbeitsverhältnis auszugehen sei, bestehe auch ein Anspruch auf Beschäftigung.

Dieser Anspruch sei im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes durchsetzbar, da einerseits das Recht des Arbeitnehmers auf Beschäftigung sonst durch Zeitablauf unwiederbringlich verloren sei und andererseits kein berechtigtes Interesse der Arbeitgeberin an der Aufrechterhaltung eines rechtswidrigen Zustands angenommen werden könne. Ausgehend hiervon überwiege auch im Hinblick auf den Zweck des gesetzlichen Sonderkündigungsschutzes das Beschäftigungsinteresse.

Ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung ist nicht gegeben.

Quelle | LAG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.1.2022, 23 SaGa 1521/21, PM 1/22 vom 7.2.2022

Aufhebungsvertrag: Arbeitgeber darf Arbeitnehmer unter Druck setzen

| Ein Aufhebungsvertrag kann unter Verstoß gegen das Gebot fairen Verhandelns zustande gekommen sein. Ob das der Fall ist, ist anhand der Gesamtumstände der konkreten Verhandlungssituation im jeweiligen Einzelfall zu entscheiden. Allein der Umstand, dass der Arbeitgeber den Abschluss eines Aufhebungsvertrags von der sofortigen Annahme seines Angebots abhängig macht, stellt für sich genommen keine Pflichtverletzung dar, auch wenn dies dazu führt, dass dem Arbeitnehmer weder eine Bedenkzeit verbleibt noch der Arbeitnehmer erbetenen Rechtsrat einholen kann. So hat es nun das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden. |

Das war geschehen

Arbeitnehmerin und Arbeitgeber stritten über den Fortbestand ihres Arbeitsverhältnisses nach Abschluss eines Aufhebungsvertrags. Am 22.11.2019 führten der Geschäftsführer und der spätere Prozessbevollmächtigte des Arbeitgebers (Beklagter), der sich als Rechtsanwalt für Arbeitsrecht vorstellte, im Büro des Geschäftsführers ein Gespräch mit der als Teamkoordinatorin Verkauf im Bereich Haustechnik beschäftigten Arbeitnehmerin (Klägerin). Sie erhoben ihr gegenüber den Vorwurf, sie habe unberechtigt Einkaufspreise in der EDV der Beklagten geändert bzw. reduziert, um so einen höheren Verkaufsgewinn vorzuspiegeln.

Die Arbeitnehmerin unterzeichnete nach einer etwa zehnminütigen Pause, in der die drei anwesenden Personen schweigend am Tisch saßen, den vom Arbeitgeber vorbereiteten Aufhebungsvertrag. Dieser sah u. a. eine einvernehmliche Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.11.2019 vor. Die weiteren Einzelheiten des Gesprächsverlaufs sind streitig geblieben. Die Arbeitnehmerin focht den Aufhebungsvertrag mit Erklärung vom 29.11.2019 wegen widerrechtlicher Drohung an.

Drohung mit Strafanzeige

Mit ihrer Klage hat die Arbeitnehmerin u. a. den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses über den 30.11.2019 hinaus geltend gemacht. Sie hat behauptet, ihr sei für den Fall der Nichtunterzeichnung des Aufhebungsvertrags eine außerordentliche Kündigung sowie die Erstattung einer Strafanzeige in Aussicht gestellt worden. Ihrer Bitte, eine längere Bedenkzeit zu erhalten und Rechtsrat einholen zu können, sei nicht entsprochen worden. Damit habe der Arbeitgeber gegen das Gebot fairen Verhandelns verstoßen. Das Arbeitsgericht (ArbG) hat der Klage stattgegeben, das Landesarbeitsgericht (LAG) hat sie auf die Berufung des Arbeitgebers abgewiesen.

Die Revision der Klägerin hatte vor dem BAG keinen Erfolg. Das BAG hatte zwar den von der Arbeitnehmerin geschilderten Gesprächsverlauf zu ihren Gunsten unterstellt. Dennoch fehlte es an der Widerrechtlichkeit der behaupteten Drohung. Ein verständiger Arbeitgeber durfte im vorliegenden Fall sowohl die Erklärung einer außerordentlichen Kündigung als auch die Erstattung einer Strafanzeige ernsthaft in Erwägung ziehen.

Bundesarbeitsgericht: Arbeitnehmerin konnte sich entscheiden

Folge: Der Arbeitgeber hat nicht unfair verhandelt und dadurch gegen seine arbeitsvertraglichen und gesetzlichen Pflichten verstoßen. Die Entscheidungsfreiheit der Arbeitnehmerin hat er nicht dadurch verletzt, dass er den Aufhebungsvertrag nur zur sofortigen Annahme unterbreitet hat und die Arbeitnehmerin über die Annahme deswegen sofort entscheiden musste.

Quelle | BAG, Urteil vom 24.2.2022, 6 AZR 333/21

Homeoffice: Keine fristlose Kündigung bei Mitnahme des Bürostuhls

| Wenn der Arbeitgeber dem Homeoffice generell Vorrang vor Präsenz einräumt, die dafür erforderliche Ausstattung aber nicht so schnell besorgen kann, kann er den Arbeitnehmer nicht sofort fristlos entlassen, wenn dieser den Bürostuhl mit nach Hause nimmt. Zu diesem Ergebnis kam das Arbeitsgericht (ArbG) Köln. |

Der Arbeitnehmer wandte sich mit seiner Klage gegen die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses u. a. durch eine außerordentliche Kündigung. Der Arbeitgeber begründete die Kündigung mit der rechtswidrigen Mitnahme eines Bürostuhls.

Das ArbG gab der Kündigungsschutzklage statt. Die unabgesprochene Mitnahme von Eigentum des Arbeitgebers nach Hause sei zwar eine Pflichtverletzung, die an sich eine Kündigung begründen könne. In der konkreten Situation reiche die Mitnahme des Bürostuhls aber nicht aus, um die außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Der Arbeitgeber habe der Tätigkeit im Homeoffice kurz vor Ostern 2020 generell Vorrang vor der Präsenztätigkeit im Büro eingeräumt, die dafür notwendige Ausstattung so kurzfristig aber nicht zur Verfügung gestellt.

Quelle | ArbG Köln, Urteil vom 18.1.2022, 16 Ca 4198/21, Abruf-Nr. 227593 unter www.iww.de

Schadenersatz: Unfall auf dem Supermarktparkplatz

| Das Amtsgericht (AG) München hat jetzt die Klage einer Fahrzeughalterin gegen einen Autofahrer und dessen Kfz-Versicherung abgewiesen. Der zugrundeliegende Unfall auf einem Supermarktparkplatz wies einige Besonderheiten auf. |

Das war geschehen

Der VW der Klägerin war in einer Parkbucht auf dem Parkplatz eines Supermarkts abgestellt. Auf dem Fahrersitz saß der Ehemann der Klägerin. Der Beklagte parkte mit einem Opel in die Parkbucht links daneben ein und stieß dabei mit der geöffnete Fahrertür des VW zusammen.

Die Klägerin macht restliche Schadenersatzansprüche unter Berücksichtigung einer teilweisen vorgerichtlichen Regulierung durch die mitbeklagte Versicherung geltend. Ihr Argument: Die Fahrertür ihres Autos sei bereits mehrere Minuten erkennbar geöffnet gewesen, sodass die Kollision für ihren Mann unvermeidbar gewesen sei.

Die Beklagten behaupten hingegen, die Tür des VW sei noch geschlossen gewesen, als der Opel ordnungsgemäß in die freie Parklücke daneben eingefahren sei. Währenddessen sei die Fahrertür des VW plötzlich und unvermittelt geöffnet und gegen das Beklagtenfahrzeug gestoßen worden; die Klagepartei würde daher allein für die Schäden haften und habe im Rahmen der vorgerichtlichen hälftigen Regulierung bereits mehr erhalten, als ihr zustehe.

Amtsgericht: alleiniges Verschulden der Klägerin

Das AG gab nach der Beweisaufnahme der Beklagtenseite Recht. Dass die Tür des VW bereits für mehrere Minuten offen gestanden hatte, konnte dabei nicht nachgewiesen werden. Nicht weiterhelfen konnte insbesondere die Aussage der unbeteiligten Zeugin, die sich zu erinnern meinte, dass die Tür insgesamt nur 5 cm aufgestanden habe nach dem Sachverständigengutachten musste die Tür bei der Kollision hingegen 60 bis 70 cm geöffnet gewesen sein. Auch vermeintliche Erinnerungen der Zeugin zur Geschwindigkeit wurden mit dem Sachverständigengutachten widerlegt. Die Angaben des Ehemanns der Klägerin und des Beklagten widersprachen sich, ohne dass das Gericht den einen oder anderen Angaben einen höheren Erkenntniswert zumessen konnte.

Das AG hat der Entscheidung eine alleinige Haftung der Klagepartei zugrunde gelegt. Für eine schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung des Türöffners hier des Fahrers des Klägerfahrzeugs spricht der Beweis des ersten Anscheins. Wer in ein Fahrzeug ein- oder aussteigt, muss sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Diese Sorgfaltsanforderung gilt für die gesamte Dauer eines Ein- oder Aussteigens, also für alle Vorgänge, die in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang damit stehen, wobei der Vorgang des Einsteigens erst mit dem Schließen der Fahrzeugtür, der Vorgang des Aussteigens erst mit dem Schließen der Fahrzeugtür und dem Verlassen der Fahrbahn beendet ist. Dieser Grundsatz war hier nach dem AG zu berücksichtigen. Dies gelte umso mehr, als auf einem Parkplatz für jeden Benutzer jederzeit mit Ein- und Aussteigevorgängen sowie mit Ein-, Auspark- und Rangiermanövern zu rechnen ist, sodass grundsätzlich erhöhtes Augenmerk auf derartige Vorgänge zu legen ist.

Ein Verschulden des Fahrers des Klägerfahrzeugs an der Kollision stand für das AG nach all dem fest. Auch ein hier nicht nachgewiesenes über mehrere Minuten andauerndes Offenstehenlassen einer Fahrzeugtür auf einem Parkplatzgelände ist erheblich risikobehaftet und vor dem Hintergrund der o. g. Pflichten zur wechselseitigen Rücksichtnahme sorgfaltswidrig.

Quelle | AG München, Urteil vom 27.10.2021, 343 C 106/21, PM 2/22 vom 14.1.2022

Reparaturkosten: Wenn die Werkstatt ein eigenes Fahrzeug fiktiv abrechnet

| Rechnet der Geschädigte, der selbst eine Kfz-Reparaturwerkstatt betreibt, den Unfallschaden am werkstatteigenen Fahrzeug fiktiv ab, scheidet ein Abzug eines Pauschalbetrags als nicht zu erstattender Unternehmergewinn aus. So entschied das Landgericht (LG) Osnabrück und bestätigte damit nun das Amtsgericht (AG) Lingen. |

Das Gericht: Bei der konkreten Abrechnung kommt es darauf an, ob die Werkstatt während der Reparatur ausgelastet war. Da bei der fiktiven Abrechnung ein Reparaturzeitraum nicht bestimmbar ist, könne die Auslastungsfrage nicht geprüft werden.

Quelle | LG Osnabrück, Beschluss vom 1.12.2021, 4 S 72/21, Abruf-Nr. 226752 unter www.iww.de; AG Lingen, Urteil vom 23.2.2021, 4 C 164/20, Abruf-Nr. 220968 unter www.iww.de

Autokauf: Sind zwölf Monate Standzeit tagesgenau zu betrachten?

| Der vom Bundesgerichtshof (BGH) vorgegebene Zwölf-Monats-Zeitraum zwischen Produktion und Verkauf eines Fahrzeugs, nach dessen Verstreichen das Fahrzeug die Eigenschaft „fabrikneu“ verliert, ist nicht tagesgenau zu verstehen. Ist er zum Verkaufszeitpunkt um zwei Tage überschritten, schadet das nicht. So entschied jetzt das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt a. M. anders als noch das Landgericht (LG) Gießen als Vorinstanz. |

Das sehen die OLG aber durchaus unterschiedlich. Während das OLG Düsseldorf ebenso flexibel ist (Urteil vom 24.10.05, I-1 U 84/05), wie das OLG Frankfurt a. M., befürwortet das OLG Hamm die tagesgenaue Anwendung (Urteil vom 16.8.16, 1-28 U 140/15). Hier sei die Rechtssicherheit entscheidend.

Der Fall des OLG Hamm lag jedoch genau andersherum: Es fehlten noch wenige Tage, der Käufer wollte dennoch bereits „aussteigen“.

Quelle | OLG Frankfurt a. M., Urteil vom 3.8.2021, 5 U 84/20, Abruf-Nr. 226614 unter www.iww.de

Verkehrsunfall: Mietwagen nicht verkehrssicher: 90.000 Euro Schmerzensgeld

| Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main verurteilte ein Mietwagenunternehmen u.a. dazu, ein Schmerzensgeld von 90.000 Euro zu zahlen. Denn der Mietwagen war nicht verkehrssicher und die klagende Mieterin hatte schwerste Verletzungen bei einem Verkehrsunfall mit diesem Fahrzeug erlitten. |

Die verschuldensunabhängige Garantiehaftung des Vermieters für anfängliche Mängel der Mietsache kann für die Verletzung von Kardinalspflichten nicht durch Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) ausgeschlossen werden. Zu diesen Kardinalpflichten gehört beim Mietwagenvertrag, ein Fahrzeug zu überlassen, dessen technischer Zustand das sichere Fahren insbesondere durch funktionsfähige Lenkung und Bremsen gewährleistet.

Das war geschehen

Die Beklagte betrieb eine gewerbliche Autovermietung. Als gewerbliche Stammkundin mietete die Klägerin bei der Beklagten für eine Woche ein Fahrzeug. Nach den Mietvertragsbedingungen haftete die Beklagte für Schäden aus der Verletzung des Lebens, des Körpers und der Gesundheit der Mieter nur bei grobem Verschulden oder fahrlässigen Pflichtverletzungen.

Auf dem Hinweg informierte die Klägerin die Beklagte, dass sie Probleme habe, in den zweiten Gang zu schalten. Auf der Rückfahrt geriet das Fahrzeug während die Klägerin versuchte, die geöffnete Seitenscheibe hochzukurbeln und hierzu ihre linke Hand vom Steuer nahm plötzlich ins Schleudern. Gegenlenken war nicht möglich. Das Fahrzeug schleuderte weiter, schaukelte sich auf, kippte nach links und rutschte über die linke Seite über den Fahrbahnrand hinaus in eine Grünfläche. Beim Umkippen des Mietfahrzeugs geriet der linke Arm der Klägerin durch das Fenster und wurde abgetrennt. Die Klägerin erlitt durch den Unfall schwerste Verletzungen. Eine Replantation des Armes war nicht möglich.

Hohe Schmerzensgeldforderung

Die Klägerin begehrt Schmerzensgeld in Höhe von 120.000 Euro, eine Schmerzensgeldrente und die Feststellung der Einstandspflicht für zukünftige Schäden wegen des Verkehrsunfalls. Das Landgericht (LG) hatte die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte beim OLG überwiegend Erfolg. Die Klägerin könne Schadenersatz verlangen, da das gemietete Fahrzeug mangelhaft gewesen sei, so das OLG. Im Kardangelenk der unteren Lenksäule sei ein Lager bereits bei Fertigung nicht richtig verbaut worden. Gemäß den Ausführungen des Sachverständigen sei damit das Fahrzeug von Anfang an „prinzipiell nicht verkehrssicher“ gewesen. Das Kreuzgelenk habe sich während der gesamten Laufleistung aus der Lageraufnahme herausgearbeitet und sei dann plötzlich während der Fahrt der Klägerin herausgesprungen. Für diesen von der Beklagten nicht verschuldeten Mangel des Fahrzeugs hafte sie dennoch. Der Unfall sei durch den Mangel verursacht worden.

Kardinalsplicht: Fahrzeug muss verkehrssicher sein!

Die Beklagte könne sich nicht auf den vereinbarten Haftungsausschluss für unverschuldete Schäden berufen. Kraft Gesetzes hafte der Vermieter auch für unverschuldete Mängel der Mietsache, soweit sie bereits bei Vertragsschluss bestanden. Diese verschuldensunabhängige gesetzliche Haftung könne zwar grundsätzlich durch AGB ausgeschlossen werden. Dies gelte aber nicht, wenn sich der Haftungsausschluss auf Schäden im Zusammenhang mit der Verletzung einer sog. Kardinalspflicht, also einer wesentlichen Pflicht, des Vermieters beziehe. Zu diesen Kardinalspflichten gehöre es, ein verkehrssicheres Fahrzeug zu vermieten, bei dem insbesondere Lenkung und Bremsen funktionsfähig seien. Der Mieter würde unangemessen entgegen Treu und Glauben benachteiligt, wenn die Klausel auch Schäden aus der Verletzung derartiger im Gegenseitigkeitsverhältnis stehenden Hauptleistungspflichten des Vermieters umfassen würde. Den typischen Vertragszweck prägende Pflichten dürften nicht durch einen Haftungsausschluss ausgehöhlt werden. Das Fahren im Straßenverkehr mit hoher Geschwindigkeit begründe stets eine latente erhebliche Gefahr für Leib und Leben der Insassen. Ein Mieter müsse sich darauf verlassen können, dass das ihm anvertraute Fahrzeug verkehrstüchtig und frei von solchen Mängeln ist, die eine erhebliche Gefahr für ihn begründen könnten.

Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde kann die Beklagte die Zulassung der Revision beim Bundesgerichtshof (BGH) beantragen.

Quelle | OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 30.12.2021, 2 U 28/21, PM vom 24.1.2022

Kindesmissbrauch: Stiefenkel: Keine Schutzbefohlenen i. S. d. Sexualstrafrechts

| Der Bundesgerichtshof (BGH) hat entschieden, dass Stiefenkel nicht zu dem geschützten Personenkreis des Straftatbestands „sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen“ gehören, wie ihn das Strafgesetzbuch (§ 174 Ab. 1 Nr. 3 StGB) vorsieht. |

Der Sohn des Angeklagten (Stiefgroßvater) ist mit der Mutter einer Nebenklägerin verheiratet. Der Stiefgroßvater betreute die damals 15- bzw. 16-jährige Nebenklägerin. Er streichelte sie gegen ihren Willen, den sie auch deutlich zum Ausdruck brachte, u. a. an ihrem Gesäß und an ihrer Brust. Zudem machte er anzügliche Bemerkungen, um sich sexuell zu erregen. Die Stiefenkelin erlitt bei diesen Vorfällen auch immer wieder blaue Flecken.

Das Landgericht (LG) verurteilte den Angeklagten u. a. wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in sechs Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Seine Revision beim BGH war insoweit erfolgreich, als dass der Schutzbereich des § 174 Ab. 1 Nr. 3 StGB nicht eröffnet ist.

Die Nebenklägerin ist kein leiblicher Abkömmling des Angeklagten, so der BGH. Leibliche Abkömmlinge sind Personen, die biologisch vom Täter abstammen. Neben leiblichen Kindern sind auch die in gerader Linie absteigenden Verwandten ([Ur-]Enkel) erfasst. Rechtliche Abkömmlinge eines Mannes sind adoptierte Kinder, die die rechtliche Stellung eines Kindes des Annehmenden erlangen, oder Kinder, die diesem rechtlich zugeordnet werden, ohne von ihm abzustammen (z. B., weil die Vaterschaft gerichtlich festgestellt wurde). Es war im Fall des BGH aber nicht festgestellt, dass der Sohn des Angeklagten zum Zeitpunkt der Geburt der Nebenklägerin mit deren Mutter verheiratet war oder sie adoptiert hat. Auf das Strafmaß hat sich die Feststellung des BGH nicht ausgewirkt.

Quelle | BGH, Beschluss vom 22.6.2021, 2 StR 131/21, Abruf-Nr. 225992 unter www.iww.de

Elterngeld: Adoption mehrerer Kinder: kein Mehrlingszuschlag

| Der Mehrlingszuschlag für Mehrlingsgeburten ist nicht auf Mehrfachadoptionen übertragbar. So hat es das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen entschieden. |

Die Ehefrau des klagenden Mannes brachte vier Kinder mit in die Ehe ein, die er adoptierte. Der Beklagte gewährte ihm für die Betreuung Elterngeld für den 6. bis 14. Monat ab Inobhutnahme. Der Mann begehrte gerichtlich erfolglos Mehrlingszuschläge à 300 Euro. Auch seine Berufung blieb erfolglos. Dem Mann steht kein Mehrlingszuschlag zu. Die Anspruchsgrundlage für den Mehrlingszuschlag nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (§ 2a Abs. 4 S. 1 BEEG) ist weder dem Wortlaut noch dem Regelungszusammenhang nach auf den Fall einer Mehrfachadoption unmittelbar anwendbar. Eine analoge Anwendung kommt nicht in Betracht. Hätte der Gesetzgeber den Mehrlingszuschlag auch bei Mehrfachadoptionen gewähren wollen, hätte er dies geregelt. Der Sachverhalt ist nicht vergleichbar.

Gemäß der Gesetzesbegründung würdigt der Mehrlingszuschlag die bei Mehrlingsgeburten bestehende besondere Belastung der Eltern. Der Beginn des Zusammenlebens mit adoptierten Kindern erfordert zwar ebenfalls i. d. R. besondere fürsorgliche Leistungen der Eltern. Adoptierte Kinder sind aber mitunter deutlich älter als Neugeborene. Der Zeitpunkt der Adoption ist auch anders planbar. Hier hatte der Mann mit den zwischen drei und zehn Jahre alten Kindern bereits über zwei Jahre in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Zudem verfügt der Gesetzgeber im Sozialleistungsrecht über einen weiten Gestaltungsspielraum. Es verletzt daher nicht den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz, nur für die besonderen Belastungen einer Mehrlingsgeburt einen Zuschlag vorzusehen. Eine Revision gegen die Entscheidung ist beim Bundessozialgericht anhängig.

Quelle | LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 30.4.2021, L 13 EG 15/18