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Monats-Archive: Oktober 2024

Einstweilige Verfügung: Schwerbehinderter Arbeitnehmer hat Anspruch auf eine stufenweise Wiedereingliederung

| Das Arbeitsgericht (ArbG) Aachen hat in einem einstweiligen Verfügungsverfahren entschieden, dass ein schwerbehinderter Arbeitnehmer Anspruch auf die Durchführung einer stufenweisen Wiedereingliederung gegenüber seiner Arbeitgeberin hat. Er darf diesen auch im Wege eines einstweiligen Verfügungsverfahrens durchsetzen. |

Das war geschehen

Der schwerbehinderte Arbeitnehmer ist seit September 1988 bei der Arbeitgeberin einem Unternehmen, das Bauelemente herstellt und vertreibt, als Verkaufs- und Vertriebsleiter tätig. Er ist wegen eines Hirntumors seit April 2023 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt und war bis zum 10.4.2024 fahruntüchtig. Das Arbeitsverhältnis der Parteien wird nach Erreichen der Regelaltersgrenze des Arbeitnehmers mit dem Ablauf des Monats Oktober 2024 enden. Mit seinem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung begehrte der Arbeitnehmer, ihn ab Mitte März 2024 entsprechend einem ärztlichen Wiedereingliederungsplan nach dem sog. „Hamburger Modell“ zu beschäftigen, um zeitnah an seinen Arbeitsplatz zurückkehren zu können.

Fehlende Fahrtüchtigkeit steht Wiedereingliederung nicht im Weg

Das ArbG gab dem Antrag des schwerbehinderten Arbeitnehmers statt, da die Arbeitgeberin verpflichtet sei, an der stufenweisen Wiedereingliederung mitzuwirken. Dem stehe die fehlende Fahrtüchtigkeit des Arbeitnehmers nicht entgegen. Der Arbeitnehmer könne während der Fahruntüchtigkeit zu Beginn der Wiedereingliederung zunächst seinem Aufgabenprofil entsprechende Büroarbeiten erledigen.

Sache ist eilbedürftig

Die für den Erlass einer einstweiligen Verfügung besondere Eilbedürftigkeit ergab sich nach Auffassung des Arbeitsgerichts daraus, dass der schwerbehinderte Arbeitnehmer auf die zeitnahe Wiedereingliederung angewiesen sei. Demgegenüber würde eine Versagung der Wiedereingliederung den Teilhabeanspruch des schwerbehinderten Arbeitnehmers am Erwerbsleben vereiteln oder jedenfalls erheblich erschweren. Auch der nahe Renteneintritt des Arbeitnehmers ändert nach Ansicht des ArbG nichts am Eilbedürfnis.

Quelle | ArbG Aachen, Urteil vom 12.3.2024, 2 Ga 6/24, PM 1/24

Geschwindigkeitsverstoß: Wenn der Messbeamte die Verkehrsüberwachungsnormen nicht kennt

| Das Oberlandesgericht (OLG) Celle hat sich mit dem Einwand eines Betroffenen gegen die Festsetzung der Regelgeldbuße bei einer Geschwindigkeitsüberschreitung auseinandergesetzt. Der Betroffene bemängelte, der Messbeamte habe die nach der (niedersächsischen) Richtlinie für die Geschwindigkeitsüberwachung aufgeführte Qualifikation nicht nachweisen können. Das habe schuldmindernd berücksichtigt werden müssen. |

Messbeamter kannte Verwaltungsvorschriften nicht

Das OLG hat die Unkenntnis des Messbeamten von Verwaltungsvorschriften als bedeutungslos angesehen. Als reine Verwaltungsvorschrift entfaltet diese Richtlinie keine Außenwirkung.

Grundsatz: Beamte müssen Vorschriften beachten

Zwar dürfen die Verkehrsteilnehmer erwarten, dass sich die Verwaltungsbehörde über Richtlinien zur Handhabung des Verwaltungsermessens, die eine gleichmäßige Behandlung sicherstellen sollen, im Einzelfall nicht ohne sachliche Gründe hinwegsetzt. Bei Nichtbeachtung kann daher im Einzelfall der Schuldgehalt einer Tat geringer erscheinen.

Ausnahme: Abweichung hat keine Auswirkungen

Dies gilt aber nicht für jede Art von Abweichung von der Richtlinie. Eine Abweichung wirkt sich nur schuldmindernd aus, wenn ein Einfluss der Abweichung auf das Verhalten des Betroffenen oder das Messergebnis denkbar ist. Es ist aber gerade nicht denkbar, dass allein die fehlende Kenntnis des Messbeamten von den mit der Verkehrsüberwachung verbundenen Vorschriften das Verhalten des Betroffenen beeinflusst.

Quelle | OLG Celle, Urteil vom 19.1.2024, 2 ORbs 348/23, Abruf-Nr. 240279 unter www.iww.de

Langzeitarbeitslosigkeit: Fehlender Arbeitsantritt als sozialwidriges Verhalten?

| Die unterlassene Aufnahme einer Arbeit ist kein sozialwidriges Verhalten, wenn das Jobcenter den Betroffenen „allein lässt“ und nicht die nötige Hilfe leistet. Das hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen entschieden. |

Langzeitarbeitsloser bewarb sich jahrelang erfolglos

Zugrunde lag das Verfahren eines Langzeitarbeitslosen, der bis 2003 als Buchhalter gearbeitet hatte. Hiernach folgten Zeiten der Arbeitslosigkeit und verschiedene Hilfsarbeiten. Der Mann bewarb sich viele Jahre erfolglos als Buchhalter, bis das Jobcenter schließlich ab 2017 keine weiteren Fahrtkosten zu Vorstellungsgesprächen übernahm. Es müsse ein Strategiewechsel stattfinden, insbesondere weil Bewerbungen als Buchhalter nach so langer Zeit nicht mehr erfolgversprechend seien. Überraschend erhielt der Mann dennoch 2019 einen Arbeitsvertrag als Buchhalter bei einer Behörde in Düsseldorf. Zur Arbeitsaufnahme kam es jedoch nicht, weil das Jobcenter die Übernahme der Mietkaution für eine neue Wohnung ablehnte und er deshalb nicht umziehen konnte.

Kein Verschulden des Arbeitslosen

2020 machte das Jobcenter gegenüber dem Mann eine Erstattungsforderung wegen sozialwidrigen Verhaltens geltend, da er nicht zum Einstellungstermin erschienen sei. Er müsse daher Grundsicherungsleistungen von rd. 6.800 Euro erstatten. Hiergegen klagte der Mann. Den Mietvertrag in Düsseldorf habe er nicht unterschrieben, weil er kein Geld für die Kaution gehabt habe und noch nicht aus seinem alten Mietvertrag entlassen gewesen sei. Das LSG hat die Rechtsauffassung des Klägers bestätigt. Der Nichtantritt einer außerhalb des Tagespendelbereichs gelegenen Arbeitsstelle stelle kein sozialwidriges Verhalten im Sinne eines objektiven Unwerturteils dar, wenn der Arbeitsuchende am künftigen Beschäftigungsort keine Wohnung anmieten könne, weil ihm selbst die Mittel für eine Mietkaution fehlten und das Jobcenter die Übernahme der Mietkaution abgelehnt habe.

Quelle | LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26.1.2023, L 11 AS 336/21

Eheschließung in Afghanistan: „Handschuhehe“ kann wirksam sein

| Eine in Abwesenheit eines Ehepartners in Afghanistan geschlossene sog. „Handschuh-Ehe“ widerspricht nicht dem „ordre public“ (der öffentlichen Ordnung), wenn keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass für den Willen der Eheschließung selbst eine Stellvertretung vorliegt. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main bestätigte einen Beschluss des Amtsgerichts (AG), dass diese Ehe nicht aufzuheben, auf den Hilfsantrag hin aber zu scheiden ist. |

Afghanische Staatsangehörige schlossen „Handschuh-Ehe“

Die Beteiligten, beide afghanische Staatsangehörige, haben im Januar 2022 in Afghanistan die Ehe in Form einer sog. Handschuh-Ehe geschlossen. Bei der Eheschließung war nur die Antragsgegnerin anwesend, nicht aber der Antragsteller, der seit 2015 in Deutschland lebte. Seit der Verlobungsfeier 2019 telefonierten die Beteiligten regelmäßig miteinander, insbesondere fanden Videotelefonate statt. Im August 2022 flüchtete die Antragsgegnerin nach Deutschland und traf dort erstmals auf ihren Mann. Die Beteiligten hielten sich etwa drei Wochen zusammen bei einem Bekannten auf. Aufgrund einer dann erfolgten Selbstmeldung und ihrer eigenen Alterseinschätzung wurde die Antragsgegnerin als unbegleitete minderjährige Jugendliche in Obhut genommen.

Ehe kann nur geschieden, nicht aufgehoben werden

Der Antragsteller beantragte die Aufhebung der in Afghanistan geschlossen Ehe, hilfsweise die Scheidung. Er behauptete, die Antragsgegnerin habe nur zum Erhalt eines Visums für die Einreise nach Deutschland mit ihm die Ehe geschlossen.

Das AG hat auf den Hilfsantrag hin die Ehe der Beteiligten geschieden, den Antrag auf Aufhebung der Ehe jedoch zurückgewiesen. Mit seiner Beschwerde begehrte der Antragsteller weiterhin die Aufhebung der Ehe. Diese Beschwerde hatte vor dem OLG keinen Erfolg.

Es lag kein Aufhebungsgrund vor

Das OLG bestätigte die Ansicht des AG, dass kein Aufhebungsgrund für die in Afghanistan geschlossene sog. Handschuhehe vorliege. Der Anerkennung der in Afghanistan unstreitig als Handschuhehe geschlossenen Ehe im Inland stehe der deutsche „ordre public“ nicht entgegen. Da keiner der Beteiligten geltend mache, dass die Eheschließung nicht dem Willen der Eheleute entsprochen habe, fehle es an Anhaltspunkten, der Stellvertreterehe aus diesem Grund die Wirksamkeit zu versagen.

Minderjährigkeit der Ehefrau nur vorgeschoben?

Aufgrund der im Verfahren gewonnenen Erkenntnisse bestünden auch keine vernünftigen Zweifel an der Volljährigkeit der Antragsgegnerin zum Zeitpunkt der Eheschließung. Die eigenen Angaben der Antragsgegnerin zu ihrem angeblichen Geburtsdatum seien hinsichtlich der weiteren im Verfahren gewonnenen Erkenntnisse nicht plausibel und damit nicht nachvollziehbar. Dabei komme dem in Kopie vorliegenden afghanischen Reisepass der Antragsgegnerin eine erhöhte Beweiswirkung zu. Diese sei weder durch die variierenden, widersprüchlichen Erklärungen der Antragsgegnerin noch durch die sog. Tazkira, einem vom Personenstandsregisteramt ausgestellten Identitätsdokument, in Zweifel gezogen worden. Dem stehe auch nicht entgegen, dass das Jugendamt zum damaligen Zeitpunkt keinen Anlass gehabt habe, die Angaben der Antragsgegnerin anzuzweifeln.

Ehe auch nach afghanischem Recht nicht aufzuheben

Ein Aufhebungsgrund nach afghanischem Recht liege ebenfalls nicht vor. Dazu zähle u.a. die Nichterfüllung einer Bedingung. Dass das spätere Zusammenleben in Deutschland eine derartige Bedingung gewesen sei, ergebe sich schon nicht aus dem Vortrag des Antragstellers. Über die konkrete Ausgestaltung der Ehe seien unstreitig keine Gespräche geführt worden. Der Antragsteller habe zudem ausreichende Erkenntnisquellen gehabt, um eine etwaig andere Motivation der Antragsgegnerin in Erfahrung zu bringen. Zudem sei es gut möglich, dass sich der Wunsch der Antragsgegnerin, allein zu leben, erst im Lauf der allein bewältigten Flucht nach Deutschland gebildet habe. Der Aufhebungsgrund des Betrugs in Form der Täuschung über einen körperlichen oder geistigen Mangel liege ebenfalls nicht vor. Fehle es an einem Aufhebungsgrund, habe das AG die Ehe zu Recht auf den Hilfsantrag hin geschieden.

Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Quelle | OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 4.4.2024, 6 UF 204/23, PM 22/24

Gemeinschaftliches Testament: Beide Ehegatten müssen testierfähig sein

| Zur Errichtung eines wirksamen gemeinschaftlichen Testaments müssen beide Ehegatten testierfähig sein. So entschied es das Oberlandesgericht (OLG) Celle. |

Das war geschehen

Die beiden Ehegatten hatten sich durch gemeinschaftliches Testament gegenseitig als Alleinerben eingesetzt. Dieses Testament wurde von der Ehefrau eigenhändig geschrieben und unterschrieben sowie vom Erblasser eigenhändig unterschrieben. Mit einer Ergänzung dieses Testaments, errichtet in gleicher Weise, ordneten die Ehegatten später eine Vor- und Nacherbschaft dergestalt an, dass der überlebende Ehegatte befreiter Vorerbe und ihre gemeinsame Tochter Nacherbin sein sollte. Bereits zwei Jahre vor dieser Ergänzung des Testaments wurde die Ehefrau wegen einer Demenzerkrankung in einem Pflegeheim untergebracht. Ein Jahr vor der Ergänzung des gemeinschaftlichen Testaments tötete der Erblasser seine Schwester und wurde in einer geschlossenen Psychiatrie untergebracht, in der er sich das Leben nehmen wollte.

Nach dessen Tod beantragte die überlebende Ehefrau, vertreten durch ihre Tochter, einen Erbschein des Inhalts, dass sie alleinige befreite Vorerbin des Erblassers geworden sei und die Nacherbfolge der Tochter nach ihrem Tod als Vorerbin eintrete. Sie hat sich zur Begründung ihres Antrags auf die beiden letzten gemeinschaftlichen Testamente gestützt. Der gemeinsame Sohn der Ehegatten ist dem Antrag entgegengetreten. Er begründete dies damit, sowohl der Erblasser als auch die Antragstellerin seien zum Zeitpunkt der Errichtung beider Testamente testierunfähig gewesen.

Nachlassgericht deutete Testamente um

Das Nachlassgericht ist nach Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Überzeugung gelangt, dass die Antragstellerin testierunfähig gewesen ist. Bezogen auf den Erblasser hat sich hingegen nicht die Überzeugung von einer Testierunfähigkeit zum Zeitpunkt der Errichtung der vorgenannten Testamente gebildet. Die Testamente könnten jeweils in ein Einzeltestament des Erblassers umgedeutet werden, weshalb es die für die Erteilung des Erbscheins erforderlichen Tatsachen für festgestellt erachtet hat. Gegen diese Entscheidung wandte sich der Sohn der Ehegatten mit der Beschwerde und begehrte die Zurückweisung des Erbscheinsantrages.

So sah es das Oberlandesgericht

Das OLG hat den Antrag auf Erteilung des Erbscheins zurückgewiesen und ausgeführt, dass die zur Erteilung des Erbscheins erforderlichen Tatsachen nicht für festgestellt zu erachten seien.

Ein wirksames gemeinschaftliches Ehegattentestament setze voraus, dass beide Ehegatten bei der Testamentserrichtung testierfähig sind. Ein Testament könne nicht errichten, wer wegen krankhafter Störung der Geistestätigkeit, Geistesschwäche oder wegen Bewusstseinsstörungen nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Da ein gemeinschaftliches Testament vom Willen beider Eheleute getragen sei, erfordere eine wirksame Verfügung von Todes wegen die Testierfähigkeit eines jeden Ehegatten. Daran fehle es bei einem Ehegatten, weshalb der Antrag auf Erteilung des Erbscheins zurückzuweisen sei.

Eine Umdeutung des unwirksamen gemeinschaftlichen Testaments in ein Einzeltestament des Erblassers komme hier nicht in Betracht, weil der Erblasser die getroffenen Anordnungen nicht eigenhändig geschrieben, sondern den von der Antragstellerin geschriebenen Text nur unterschrieben habe. Die Umdeutung als Einzeltestament komme hier nur für den Teil in Betracht, der die Verfügung eigenhändig hier also die Antragstellerin niedergelegt habe.

Quelle | OLG Celle, Urteil vom 14.3.2024, 6 W 106/23, Abruf-Nr.242166 unter www.iww.de

Neutralitätsgebot: Verwaltung muss keine sichtbaren Religionssymbole dulden

| Eine öffentliche Verwaltung kann das sichtbare Tragen von Zeichen, die weltanschauliche oder religiöse Überzeugungen erkennen lassen, verbieten, um ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld zu schaffen. Eine solche Regel ist nicht diskriminierend, wenn sie allgemein und unterschiedslos auf das gesamte Personal dieser Verwaltung angewandt wird und sich auf das absolut Notwendige beschränkt. So sieht es der Europäische Gerichtshof (EuGH). |

Verbot eines islamischen Kopftuchs

Eine belgische Gemeinde hatte einer Bediensteten, die als Büroleiterin ganz überwiegend ohne Publikumskontakt tätig ist, untersagt, am Arbeitsplatz das islamische Kopftuch zu tragen. Anschließend änderte die Gemeinde ihre Arbeitsordnung und schrieb in der Folge ihren Arbeitnehmern strikte Neutralität vor: Das Tragen von auffälligen Zeichen ideologischer oder religiöser Zugehörigkeit verbot sie allen Arbeitnehmern, auch denen ohne Publikumskontakt. Die Büroleiterin fühlte sich diskriminiert und in ihrer Religionsfreiheit verletzt.

Lag Diskriminierung vor?

Dem mit dem Rechtsstreit befassten Arbeitsgericht (ArbG) Lüttich stellt sich die Frage, ob die von der Gemeinde aufgestellte Regel der strikten Neutralität eine gegen das Unionsrecht verstoßende Diskriminierung begründet. Der EuGH antwortete, dass die Politik der strikten Neutralität, die eine öffentliche Verwaltung ihren Arbeitnehmern gegenüber durchsetzen will, um bei sich ein vollständig neutrales Verwaltungsumfeld zu schaffen, als durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt angesehen werden kann.

Wertungsspielraum der Mitgliedsstaaten, wie „Neutralität“ ausgestaltet wird

Ebenso gerechtfertigt ist die Entscheidung einer anderen öffentlichen Verwaltung für eine Politik, die allgemein und undifferenziert das Tragen von sichtbaren Zeichen u. a. weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen, auch bei Publikumskontakt, gestattet, oder ein Verbot des Tragens solcher Zeichen beschränkt auf Situationen, in denen es zu Publikumskontakt kommt. Die Mitgliedsstaaten und die unterhalb der staatlichen Ebene angesiedelten Einheiten verfügen über einen Wertungsspielraum bei der Ausgestaltung der Neutralität des öffentlichen Dienstes, die sie in dem für sie spezifischen Kontext am Arbeitsplatz fördern wollen. Dieses Ziel muss aber in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werden, und die zu seiner Erreichung getroffenen Maßnahmen müssen sich auf das absolut Notwendige beschränken. Es ist Sache der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob diese Anforderungen erfüllt sind.

Quelle | EuGH, Urteil vom 28.11.2023, C-148/22, Abruf-Nr. 241009 unter www.iww.de

Corona-Pandemie: Beschäftigungsanspruch:Eishockeyspieler ist kein Schauspieler

| Für Bühnenkünstler gewährt die Rechtsprechung pauschalierten Schadenersatz von bis zu sechs Monatsgagen pro Spielzeit, wenn der Arbeitgeber den Beschäftigungsanspruch des Arbeitnehmers verletzt. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschied nun: Dieser Anspruch kann nicht auf den Profimannschaftssport übertragen werden. |

Saisonabbruch in der Corona-Pandemie: Kläger durfte nicht spielen

Der Kläger ist Eishockeyspieler. Er stritt mit seinem Arbeitgeber über einen Schadenersatzanspruch. Sein Arbeitgeber, der Beklagte, hatte ihn in der Saison 2019/2020 nicht beschäftigt, da diese aufgrund der Corona-Pandemie abgebrochen wurde. Bis dahin fungierte er als Kapitän und Leistungsträger der Mannschaft.

Außerordentliche fristlose Kündigung

Die Beklagte sprach eine ordentliche betriebsbedingte Kündigung aus und bot gleichzeitig an, das Arbeitsverhältnis mit einer verringerten Vergütung fortzusetzen. Der Kläger nahm das Änderungsangebot unter dem Vorbehalt der sozialen Rechtfertigung der Änderung der Arbeitsbedingungen an und erhob eine Änderungsschutzklage. Daraufhin stellte die Beklagte den Kläger vom Mannschaftstraining frei. Durch einstweilige Verfügung erstritt der Kläger die Zulassung zum Trainingsbetrieb. Anschließend erfolgte eine außerordentliche fristlose Kündigung.

Das Arbeitsgericht stellte die Unwirksamkeit der Änderung der Arbeitsbedingungen und der fristlosen Kündigung fest. Die tatsächliche Teilnahme am Training wurde dem Kläger jedoch durchgängig verweigert. Er ist der Ansicht, er habe einen Anspruch auf Schadenersatz aufgrund der Weigerung der Beklagten, ihn vertragsgemäß zu beschäftigen. Ihm sei ein Schaden in seinem beruflichen Fortkommen entstanden, da er als Eishockeyprofi seine beruflichen Fertigkeiten nicht im Mannschaftstraining habe weiterentwickeln und verbessern können. Dadurch habe sein Marktwert gelitten, denn ein Profimannschaftssportler bedürfe der ständigen Trainingspraxis. Die Beklagte habe sich ihm gegenüber durchgängig unlauter verhalten. Die Vorinstanzen gaben der Klage in Höhe von zwei Bruttomonatsgehältern statt und wiesen die weitergehende Klageforderung ab.

Kläger blieb vor dem Bundesarbeitsgericht erfolglos

Vor dem BAG blieb der Kläger erfolglos. Er hat keinen Anspruch auf weiteren Schadenersatz wegen der Verletzung seines Beschäftigungsanspruchs. Zwar besteht ein Anspruch des Arbeitnehmers auf vertragsgemäße Beschäftigung und damit korrespondierend eine Pflicht des Arbeitgebers, ihn vertragsgemäß zu beschäftigen. Die Beklagte hatte den Beschäftigungsanspruch auch schuldhaft verletzt, indem sie ihn vom Mannschaftstraining suspendiert hatte. Dies und die anschließende außerordentliche fristlose Kündigung seien zudem eine Maßregelung gewesen, da der Kläger lediglich in zulässiger Weise seine Rechte ausgeübt hatte.

Der Kläger hat aber nicht ausreichend dargelegt, dass ihm infolge der Verletzung der Beschäftigungspflicht ein solcher Schaden entstanden sei. Zudem dürfen, so das BAG, Schadenersatzansprüche von Profimannschaftssportlern nicht in Anlehnung an die Rechtsprechung für andere Berufsgruppen, z. B. Bühnenkünstler, pauschalierend festgesetzt werden. Für die Schätzung des Schadens eines Profimannschaftssportlers bedürfe es greifbarer Tatsachen. Hieran fehlte es vorliegend. Mangels konkreter Anhaltspunkte könnte nur eine völlig abstrakte Berechnung des Schadens erfolgen, die vollkommen „in der Luft hinge“ und daher willkürlich wäre.

Quelle | BAG, Urteil vom 29.2.2024, 8 AZR 359/22, Abruf-Nr. 241175 unter www.iww.de

Bundesgerichtshof: Verkehrsunfall: Neues zum Sachverständigenrisiko

| Der Bundesgerichtshof (BGH) hat seine Grundsätze zum Werkstattrisiko auf überhöhte Kostenansätze eines Sachverständigen übertragen, den der Geschädigte mit der Begutachtung seines Fahrzeugs zur Ermittlung des unfallbedingten Schadens beauftragt hat. |

Es ging um die sog. Corona-Pauschale

Bei einem Verkehrsunfall, für den die Beklagte als Haftpflichtversicherer des Unfallgegners dem Grunde nach voll haftet, wurde ein Pkw beschädigt. Dessen Halter beauftragte die Klägerin, Inhaberin eines Sachverständigenbüros, mit der Begutachtung seines verunfallten Pkw und trat gleichzeitig seine diesbezüglichen Schadenersatzansprüche gegen die Beklagte an die Klägerin ab. Die Beklagte erstattete die Kosten für das Gutachten mit Ausnahme der von der Klägerin in Rechnung gestellten Position „Zuschlag Schutzmaßnahme Corona“ in Höhe von 20 Euro. Die Klägerin hat diese Rechnungsposition damit begründet, dass sie insbesondere Desinfektionsmittel, Einwegreinigungstücher und Einmalhandschuhe (sog. Corona-Pauschale) habe anschaffen müssen. Mit der Klage hat sie die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von 20 Euro nebst Zinsen verlangt.

So entschieden die gerichtlichen Instanzen

Die Vorinstanzen waren der Auffassung, dass die sog. Corona-Pauschale vom Sachverständigen nicht gesondert in Rechnung gestellt werden dürfe. Das sah der BGH anders.

Dem Geschädigten stand dem Grunde nach ein Anspruch gegen die Beklagte auf Ersatz der Kosten des eingeholten Sachverständigengutachtens zu; denn er ist grundsätzlich berechtigt, einen qualifizierten Gutachter seiner Wahl mit der Erstellung des Schadensgutachtens zu beauftragen. Dieser Anspruch ist durch die Abtretung auf das klagende Sachverständigenbüro übergegangen.

Auf ggf. überhöhte Kostenansätze eines Kfz-Sachverständigen sind die Grundsätze des BGH zum Werkstattrisiko übertragbar. Denn den Erkenntnis- und Einwirkungsmöglichkeiten des Geschädigten sind nicht nur in dem werkvertraglichen Verhältnis mit einer Reparaturwerkstatt, sondern auch in dem werkvertraglichen Verhältnis mit einem Kfz-Sachverständigen Grenzen gesetzt. Dies gilt vor allem, sobald er den Gutachtensauftrag erteilt und das Fahrzeug in die Hände des Gutachters gegeben hat. Ersatzfähig im Verhältnis des Geschädigten zum Schädiger sind demnach auch die Rechnungspositionen, die ohne Schuld des Geschädigten etwa wegen überhöhter Ansätze von Material oder Arbeitszeit oder wegen unsachgemäßer oder unwirtschaftlicher Arbeitsweise unangemessen, mithin nicht zur Herstellung erforderlich sind. Bei einem Kfz-Sachverständigen, der sein Grundhonorar nicht nach Stunden, sondern nach Schadenshöhe berechnet, kommt ein für den Geschädigten nicht erkennbar überhöhter Ansatz z. B. auch in Betracht, wenn der Gutachter den Schaden unzutreffend zu hoch einschätzt. Diesbezügliche Mehraufwendungen sind dann ebenfalls ersatzfähig, ebenso Rechnungspositionen, die sich auf für den Geschädigten nicht erkennbar tatsächlich nicht durchgeführte Maßnahmen im Zusammenhang mit der Begutachtung beziehen. Allerdings kann der Schädiger im Rahmen des Vorteilsausgleichs die Abtretung gegebenenfalls bestehender Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen verlangen.

Die Anwendung der genannten Grundsätze auf die Sachverständigenkosten setzt nicht voraus, dass der Geschädigte die Rechnung des Sachverständigen bereits bezahlt hat. Soweit er die Rechnung nicht beglichen hat, kann er will er das Werkstattrisiko bzw. hier das Sachverständigenrisiko nicht selbst tragen die Zahlung der Sachverständigenkosten allerdings nicht an sich, sondern nur an den Sachverständigen verlangen, Zug um Zug gegen Abtretung etwaiger (dieses Risiko betreffenden) Ansprüche des Geschädigten gegen den Sachverständigen. Es gelten auch insoweit dieselben Grundsätze wie für die Instandsetzung des beschädigten Fahrzeugs.

Hat sich der Sachverständige die Schadenersatzforderung des Geschädigten in Höhe der Honorarforderung abtreten lassen, kann er sich als Zessionar allerdings nicht auf das Sachverständigenrisiko berufen.

Klägerin hatte sich Honorarforderung abtreten lassen

Da im vorliegenden Fall die Klägerin (Inhaberin des Sachverständigenbüros) aus abgetretenem Recht des Geschädigten vorgeht, kann sie sich nicht auf das Sachverständigenrisiko berufen. Sie muss vielmehr darlegen und ggf. beweisen, dass die mit der Pauschale abgerechneten Corona-Schutzmaßnahmen tatsächlich durchgeführt wurden und objektiv erforderlich waren und dass die Pauschale auch ihrer Höhe nach nicht über das Erforderliche hinausgeht.

Sachverständiger hat Entscheidungsspielräume über Hygienemaßnahmen

Bei der Beurteilung, ob die durchgeführten Corona-Schutzmaßnahmen objektiv erforderlich waren, ist zu berücksichtigen, dass einem Sachverständigen als Unternehmer gewisse Entscheidungsspielräume hinsichtlich seines individuellen Hygienekonzepts während der Corona-Pandemie zuzugestehen sind. Dabei geht es nicht nur um den Schutz des Sachverständigen und seiner Mitarbeiter vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus, sondern auch um den Schutz, den der Auftraggeber der jeweiligen Begutachtung während der Pandemie im Hinblick auf Maßnahmen, die in seinem Fahrzeug durchgeführt werden, üblicherweise bzw. aufgrund der Gepflogenheiten während der Pandemie erwarten darf; diesen Erwartungen zu entsprechen, ist ein berechtigtes Anliegen des Sachverständigen.

Berechnung der Corona-Pauschale war nicht zu beanstanden

Es begegnet auch keinen grundsätzlichen Bedenken, dass die Klägerin die Corona-Pauschale gesondert berechnet hat. Einem Kfz-Sachverständigen steht es frei, neben einem Grundhonorar für seine eigentliche Sachverständigentätigkeit Nebenkosten, auch in Form von Pauschalen, für tatsächlich angefallene Aufwendungen abzurechnen. Die betriebswirtschaftliche Entscheidung, ob die für das Hygienekonzept in der Corona-Pandemie anfallenden Kosten gesondert ausgewiesen oder als interne Kosten in die Kalkulation des Grundhonorars „eingepreist“ werden, steht dabei dem Sachverständigen als Unternehmer zu; es darf nur nicht beides kumulativ erfolgen.

Quelle | BGH, Urteil vom 12.3.2024, VI ZR 280/22, PM 86/24

Straßenverkehrssicherungspflicht: Gemeinde haftet bei Kollision mit schlecht sichtbarem Betonpoller

| Wer in der Dunkelheit mit dem Auto auf einen Betonpoller auffährt, muss nicht unbedingt für seinen Schaden selbst aufkommen. So hat es das Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig entschieden. |

Das war geschehen

Ein Autofahrer forderte von einer Gemeinde Schadenersatz. Er war bei Dunkelheit mit seinem Fahrzeug in den mittleren von drei etwa 40 Zentimeter hohen Betonpollern hineingefahren. Die Poller hatte die Gemeinde hinter dem Einmündungsbereich einer mit einem Sackgassenschild ausgewiesenen Straße als Durchfahrtssperre aufgestellt. Nur die äußeren beiden Poller waren dabei mit jeweils drei Reflektoren versehen. Das Landgericht (LG) hatte die Gemeinde teilweise zum Schadenersatz verurteilt. Der Autofahrer müsse sich lediglich 25 Prozent Mitverschulden anrechnen lassen.

Verstoß gegen die Straßenverkehrssicherungspflicht

Dies hat das OLG nun bestätigt. Die Gemeinde habe gegen ihre Straßenverkehrssicherungspflicht verstoßen. Sie hätte die der Verkehrsberuhigung dienenden Poller so aufstellen müssen, dass die Benutzer der Straße diese gut sehen könnten, wenn sie entsprechend sorgfältig führen. Dies hätte durch gut sichtbare Markierungen und ausreichende Beleuchtung erfolgen müssen. Das gelte vor allem, weil die Poller nur eine geringe Höhe (ca. 40 cm) hatten. Solche Poller seien aus dem Sichtwinkel eines Autofahrers nur schwer zu erkennen.

Sachverständigengutachten: Poller waren nicht zu erkennen

Das OLG hatte ein Sachverständigengutachten eingeholt. Danach kam es zu dem Ergebnis, dass jedenfalls der mittlere und der rechte Poller unabhängig von der Geschwindigkeit und selbst bei Tageslicht für einen von rechts in die Straße einbiegenden Kraftfahrzeugfahrer nicht erkennbar waren. Dies habe der Sachverständige anhand von Videosequenzen belegt. Auch dem Sackgassenschild habe ein Autofahrer nicht entnehmen können, dass die Straße durch Poller versperrt sein würde. Die beklagte Gemeinde habe damit in eklatanter Weise gegen ihre Verkehrssicherungspflichten verstoßen.

Quelle | OLG Braunschweig, Urteil vom 10.12.2018, 11 U 54/1

Bundesgerichtshof: Kontakt außerhalb festgelegter Umgangszeiten

| Oft weist das Familiengericht einem Elternteil für „reguläre Betreuungszeiten“ einerseits und die Ferienzeiten andererseits bestimmte Tage unter Festlegung konkreter Übergabezeiten zu. Danach ist der Elternteil verpflichtet, die Kinder pünktlich vom Kindergarten, der Schule bzw. am Wohnsitz des anderen Elternteils abzuholen und pünktlich zurückzubringen. Bei schuldhafter Zuwiderhandlung gegen diese Umgangsregelung droht das Gericht dann im Beschluss Ordnungsgeld und ersatzweise Ordnungshaft an. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat jetzt in einen solchen Fall der Zuwiderhandlung Klartext gesprochen. |

Umgangsregelung muss „vollstreckungsfähigen“ Inhalt haben

Voraussetzung für die Verhängung eines Ordnungsmittels ist eine Umgangsregelung mit vollstreckungsfähigem Inhalt, folglich eine nach Art, Ort und Zeit erschöpfende, hinreichend bestimmte und konkrete Regelung des Umgangsrechts. Einer Umgangsregelung, durch die der Umgang auf einen bestimmten Rhythmus festgelegt wird oder dem umgangsberechtigten Elternteil bestimmte Umgangszeiten zugewiesen werden, ist somit nicht mit für eine Vollstreckung hinreichender Deutlichkeit zu entnehmen, dass sich der Umgangsberechtigte eines Umgangs mit dem Kind in der übrigen Zeit enthalten muss. Ein solches Gebot muss sich stets ausdrücklich und eindeutig aus der Umgangsregelung ergeben, um taugliche Grundlage für die Anordnung eines Ordnungsmittels zu sein.

Begriff des Umgangs ist umfassend zu verstehen

Der BGH stellt klar: Der Begriff des Umgangs ist umfassend zu verstehen und schließt jegliche Art von Kontakt mit dem Kind ein (einschl. flüchtiger, fernmündlicher, schriftlicher oder nonverbaler Kommunikation). Der Gesetzgeber hat auf den Begriff „persönlicher Umgang“ verzichtet und auch niedrigschwellige Kontaktaufnahmen, wie Brief- und Telefonkontakte, ausdrücklich einbezogen.

Unter Berücksichtigung des Konkretheitsgebots für die Vollstreckbarkeit von Umgangsregelungen verneint der BGH, dass aus einer positiv formulierten Umgangsregelung implizit ein Verbot von Kontakten außerhalb der geregelten Zeiten abgeleitet werden kann. Soll jeglicher Kontakt außerhalb der festgelegten Umgangszeiten unterbunden werden, muss sich ein an den umgangsberechtigten Elternteil gerichtetes Unterlassungsgebot, sich der Kontaktaufnahme mit dem Kind in der ihm nicht zum Umgang zugewiesenen Zeit zu enthalten, stets ausdrücklich und eindeutig aus der Umgangsregelung ergeben, um Grundlage für die Anordnung eines Ordnungsmittels zu sein. Ansonsten scheitert die Verhängung von Ordnungsmitteln am vollstreckungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatz.

Quelle | BGH, Beschluss vom 21.2.2024, XII ZB 401/23, Abruf-Nr. 241322 unter www.iww.de