| Die Fremdunterbringung eines Kindes wegen seiner Belastung durch den zwischen seinen getrenntlebenden Eltern schwelenden Sorgerechtsstreit ist regelmäßig unverhältnismäßig. Wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sprach das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main dem Kläger eine Entschädigung in Höhe von 3.000 Euro zu. |
Das war geschehen
Der Kläger nimmt die beklagte Stadt Frankfurt am Main auf Schadenersatz wegen seiner Unterbringung in einem Kinderheim in Anspruch. Seine getrenntlebenden Eltern stritten über das Sorgerecht. Der damals Sechsjährige lebte bei seiner Mutter und hatte regelmäßig Umgang mit seinem Vater. Der Vater informierte das Jugendamt, dass der Kläger ihm mitgeteilt habe, von der Mutter geschlagen worden zu sein; das Jugendamt erhielt auch ein entsprechendes ärztliches Attest. Daraufhin nahm das Jugendamt den Kläger in Obhut und brachte den Kläger in einem Kinderheim unter. Das Familiengericht übertrug dem Jugendamt das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Die Eltern widerriefen knapp drei Wochen nach der Unterbringung ihre zunächst erteilte Zustimmung. Knapp vier Monate später wurde der familiengerichtliche Beschluss vorläufig ausgesetzt und der Kläger kehrte zu seiner Mutter zurück. Nachfolgend hob das OLG im Sorgerechtsverfahren den Beschluss auf und übertrug das Sorgerecht auf den Vater. Dort lebt der Kläger seitdem. Der Kläger begehrte Entschädigung wegen der erlittenen Trennung von seinen Eltern.
Erfolg in der höheren Instanz
Das Landgericht (LG) hatte die Klage abgewiesen. Die hiergegen eingelegte Berufung des Klägers hatte vor dem OLG teilweise Erfolg. Die Stadt als Trägerin des Jugendamts wurde verurteilt, wegen Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts an den Kläger 3.000 Euro zu zahlen und für künftige Schäden einzustehen.
Anfängliche Inobhutnahme war rechtens…
Zur Begründung betonte das OLG zunächst, dass die anfängliche Inobhutnahme keine schuldhafte Amtspflichtverletzung dargestellt habe. Insbesondere sei nicht feststellbar, dass das Jugendamt den Sachverhalt unzureichend ermittelt oder durch eine fehlerhafte Antragstellung die gerichtliche Entscheidung maßgeblich beeinflusst habe. Darüber hinaus liege die Verantwortung für die Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht allein beim Familiengericht. Zum Zeitpunkt der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf das Jugendamt hätten die Eltern der Übertragung auch zugestimmt.
… aber Fremdunterbringung war unverhältnismäßig
Pflichtwidrig habe aber die zuständige Mitarbeiterin des Jugendamts das Aufenthaltsbestimmungsrecht auch nach Ablauf einer kurzen Zeitspanne weiterhin zugunsten einer Fremdunterbringung ausgeübt. Die Fremdunterbringung eines Kindes aus Anlass eines tiefgreifenden Elternkonfliktes sei nur dann gerechtfertigt, „wenn der permanente Elternkonflikt das Kindeswohl in hohem Maße und mit hoher Wahrscheinlichkeit gefährdet“. Zu berücksichtigen sei dabei stets der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. „Die Folgen der Fremdunterbringung dürften für das Kind nicht gravierender sein als die Folgen eines Verbleibs in der Herkunftsfamilie“, stellte das OLG klar.
Hier könne die Inobhutnahme und Unterbringung in einem Kinderheim abgesehen von einer kurzen Übergangszeit nicht damit gerechtfertigt werden, dass der Kläger von seiner Mutter geschlagen wurde. Der Gefahr erneuter Misshandlungen habe vielmehr dadurch begegnet werden können, dass der Kläger bis zur endgültigen Entscheidung über das Sorgerecht bei seinem Vater untergebracht wurde. Ein solcher sofortiger Ortswechsel habe mit entsprechenden Unterstützungsleistungen auch begleitet werden können.
Der heftige und langwierige Streit der Eltern über das Sorge- und Umgangsrecht rechtfertige dagegen angesichts der mit der Fremdunterbringung einhergehenden Belastungen nicht deren Fortdauer. Die ursprüngliche Herausnahme aus der Familie sei lediglich als kurzfristige Maßnahme veranlasst gewesen, in deren Verlauf eine Beruhigung eintreten sollte. Eine längere, monatelange Trennung von den Eltern habe der Kläger dagegen nicht als Entlastung von dem elterlichen Konflikt erleben können, sondern als ungerechtfertigte Folge dessen, dass er sich über die Misshandlungen durch seine Mutter beschwert habe.
Quelle | OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 27.7.2023, 1 U 6/21
| Das Verwaltungsgericht (VG) Schleswig-Holstein stellte jetzt fest: Die Schulen und Schulämter können Zwangsmittel auch gegenüber den Eltern schulpflichtiger Kinder anwenden, um die Schulpflicht durchzusetzen. |
Zwangsgelder in fünf Fällen
In fünf ähnlich gelagerten Fällen wandten sich betroffene Eltern gegen die ihnen durch Schulen bzw. Schulämter auferlegte Verpflichtung, ihr Kind an einer Schule anzumelden bzw. dafür zu sorgen, dass es am Schulunterricht teilnimmt. Diese Verpflichtung war in den meisten Fällen mit der Androhung eines Zwangsgelds verbunden. Die Zwangsgelder in Höhe zwischen 300 und 800 Euro wurden teilweise auch zur Zahlung festgesetzt, nachdem die Eltern der Pflicht zur Schulanmeldung und Schulpflichtsicherstellung nicht nachgekommen waren.
Wille des Kindes gegen Schulbesuch „ist aufzulösen“
Das Gericht beurteilte das Vorgehen der Schulen und Ämter als rechtmäßig. Das Schleswig-Holsteinische Schulgesetz halte für Zwangsmittel hinreichende Rechtsgrundlagen vor. Die Eltern hätten nicht dargelegt, ihrer gesetzlichen Verantwortung für den Schulbesuch ihrer Kinder nachgekommen zu sein. Für Geltung und Durchsetzung der Schulpflicht komme es nicht darauf an, dass ein Kind (auch) aus eigenem Willen nicht zur Schule gehe, weil es außerhalb der Schule selbstbestimmt lernen wolle. Ein solcher Kindeswille mache den Eltern die Erfüllung der gegen sie gerichteten Verpflichtungsanordnung weder unmöglich noch führe er zur Nichtigkeit des Bescheids. Vielmehr müssen Eltern aufgrund ihrer Sorgepflicht auch versuchen, einen etwa entgegenstehenden Willen des Kindes aufzulösen. Auch ein vorgetragener Umzug ins Ausland tangiere die Schulpflicht nicht, solange in Wirklichkeit von einem Hauptwohnsitz der Familie in Deutschland auszugehen sei.
Quelle | VG Schleswig-Holstein, Urteile vom 8.5.2023, 9 A 174/22, 9 A 53/23, 9 A 57/23, 9 A 98/23 und 9 A 130/23, PM vom 14.8.2023
| Das neue Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag (SBGG) soll trans-, intergeschlechtlichen und nichtbinären Personen erleichtern, ihren Geschlechtseintrag ändern zu lassen. Die Bundesregierung hat jetzt einen entsprechenden Entwurf vorgelegt. |
Das Selbstbestimmungsgesetz soll es für transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nichtbinäre Menschen einfacher machen, ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister und ihre Vornamen ändern zu lassen. Die Änderung soll in Zukunft durch eine Erklärung gegenüber dem Standesamt vorgenommen werden können. Eine gerichtliche Entscheidung über die Antragstellung soll nicht mehr erforderlich sein. Auch die Notwendigkeit zur Einholung zweier Sachverständigengutachten soll entfallen. Das Gesetz soll an die Stelle des Transsexuellengesetzes (TSG) von 1980 treten. Es trifft keine Regelungen zu geschlechtsangleichenden medizinischen Maßnahmen.
Hintergrund: Das Grundgesetz schützt auch das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung. Das hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) wiederholt klargestellt. Durch das Selbstbestimmungsgesetz soll die Verwirklichung dieses Rechts erleichtert werden. Nach dem geltenden TSG setzt die Änderung des Geschlechtseintrags die Einholung von zwei Sachverständigengutachten und eine gerichtliche Entscheidung voraus. Diese Vorgaben empfinden viele Betroffene als entwürdigend. Das Verfahren ist außerdem langwierig und kostspielig. Auch die Begutachtenden selbst äußern sich zunehmend skeptisch in Bezug auf die Begutachtungspflicht. Der deutsche Psychotherapeutentag hat sich dafür ausgesprochen, eine Änderung über eine Erklärung beim Standesamt zu regeln und den Geschlechtseintrag im Wesentlichen nur vom Geschlechtsempfinden der antragstellenden Person abhängig zu machen.
Das Selbstbestimmungsgesetz kann erst in Kraft treten, wenn der Deutsche Bundestag das Gesetz beschlossen hat. Eine Zustimmung des Bundesrats ist nicht erforderlich. Konkrete Zeitangaben hat die Bundesregierung nicht gemacht. Die Entscheidung liegt beim Deutschen Bundestag. Der Gesetzentwurf sieht ein Inkrafttreten am 1.11.2024 vor.
Quelle | Bundesministerium der Justiz, Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag und zur Änderung weiterer Vorschriften, Entwurf, letzte Aktualisierung vom 31.8.2023
| Erben sind nicht am Gerichtsverfahren zu beteiligen, wenn die Vaterschaft eines Verstorbenen festgestellt werden soll. Auf jeden Fall dürfen sie aber nicht mit den Verfahrenskosten belastet werden, sollten sie dennoch beteiligt werden. So sieht es das Oberlandesgericht (OLG) Schleswig. |
Komplizierte Familiensituation
Die Hinterbliebenen stritten um die Kosten eines Vaterschaftsfeststellungsverfahrens. Der Erblasser hatte eine Witwe, deren Tochter und zwei weitere Kinder von anderen Frauen hinterlassen. Eine weitere Frau beantragte nun, festzustellen, der Verstorbene sei ihr Vater gewesen, um Pflichtteilsansprüche geltend zu machen. Die Witwe wollte, dass die Frau hierfür einen Nachweis erbringt. Das Amtsgericht (AG) beteiligte diese Frau, deren Mutter und die o. g. vier Erben am Verfahren.
Vaterschaftsfeststellung eindeutig
Die Vaterschaftsstellung ergab, dass die Frau die Tochter des Erblassers war. Das AG meinte dann, dass allein die o. g. Erben die Kosten dieses Verfahrens tragen müssten. Doch die Erben wehrten sich dagegen mit Erfolg.
Das OLG: Die Erben müssen Kosten der Vaterschaftsfeststellung nicht tragen, sondern Mutter und Tochter jeweils zur Hälfte. Das AG durfte die übrigen Familienmitglieder nicht zum Verfahren hinzuziehen. Den Erben fehle es an einem unmittelbaren Interesse am Ausgang der Sache. Das Gericht erwähnte noch, dass die Tochter als Erwachsene rund 15 Jahre Zeit gehabt hatte, die Vaterschaft zu Lebzeiten ihres Vaters klären zu lassen. Ihre Mutter wiederum habe es unterlassen, rechtzeitig vor der Volljährigkeit der Tochter das Jugendamt für eine kostengünstige Feststellung hinzuzuziehen.
Quelle | OLG Schleswig, Beschluss vom 1.6.2023, 8 WF 50/23
| Das Gericht des Mitgliedstaats der EU, in dem das Kind seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, kann trotz Zuständigkeit für die Entscheidung über das Sorgerecht in Ausnahmefällen die Verweisung des Falls an ein Gericht des Mitgliedstaats beantragen, in den das Kind verbracht wurde. Das Kind muss jedoch eine besondere Bindung zu dem anderen Mitgliedstaat haben, das Gericht dieses anderen Mitgliedstaats muss den Fall besser beurteilen können und die Verweisung muss dem Wohl des Kindes entsprechen. So hat es jetzt der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschieden. |
Das war geschehen
Ein slowakisches Paar, das mit seinen beiden Kindern in Österreich wohnhaft war, trägt aufgrund einer Trennung einen Rechtsstreit über das Sorgerecht für die Kinder und deren Wohnort aus. Da die Mutter die Kinder zu sich in die Slowakei gebracht hatte, beantragte der Vater nach dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung bei einem slowakischen Gericht die Rückführung der Kinder zu ihm nach Österreich. Da die Eltern bisher das gemeinsame Sorgerecht hatten, beantragte der Vater bei einem österreichischen Gericht außerdem, ihm das alleinige Sorgerecht zu übertragen. Die Mutter der Kinder beantragte bei diesem österreichischen Gericht, dass es ein slowakisches Gericht ersuchen möge, sich hinsichtlich des Sorgerechts für die Kinder für zuständig zu erklären. Das österreichische Gericht gab diesem Antrag statt, wogegen der Vater einen sog. Rekurs erhob.
Österreichisches Gericht rief den Europäischen Gerichtshof an
Vor diesem Hintergrund hat das österreichische Rekursgericht den EuGH ersucht, die „Brüssel-IIa-Verordnung“ auszulegen, die auf Unionsebene Zuständigkeitsregeln u. a. für Sorgerechtsangelegenheiten festlegt. Nach dieser Verordnung sind für die Entscheidung eines Sorgerechtsstreits grundsätzlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichts seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Aufgrund ihrer räumlichen Nähe sind diese Gerichte nämlich im Allgemeinen am besten in der Lage, die zum Wohl des Kindes zu erlassenden Maßnahmen zu beurteilen. Bei einem widerrechtlichen Verbringen des Kindes bleiben jedoch grundsätzlich die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und zwar, um von einem derartigen Verbringen abzuschrecken.
In Ausnahmefällen kann das Gericht eines Mitgliedstaats, das in der Hauptsache für die Entscheidung über das Sorgerecht zuständig ist, gemäß dieser Verordnung die Verweisung des Falls an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats beantragen, zu dem das Kind eine besondere Bindung hat, wenn dieses Gericht den Fall besser beurteilen kann und dies dem Wohl des Kindes entspricht. Im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, ob diese Möglichkeit auch dann besteht, wenn das Kind widerrechtlich verbracht wurde.
So sieht es der Europäische Gerichtshof
Der EuGH bejahte diese Frage: Das Gericht eines Mitgliedstaats, das in der Hauptsache für die Entscheidung über das Sorgerecht zuständig ist, da das Kind unmittelbar, bevor es von einem Elternteil in einen anderen Mitgliedstaat verbracht wurde, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat hatte, kann in Ausnahmefällen die Verweisung des Falls an ein Gericht dieses anderen Mitgliedstaats beantragen. Dies setzt voraus, dass das Kind eine besondere Bindung zu diesem anderen Mitgliedstaat hat, dass das andere Gericht nach Ansicht des zuständigen Gerichts den Fall besser beurteilen kann und dass die Verweisung dem Wohl des Kindes entspricht. Diese kumulativen Voraussetzungen sind abschließend.
Es ist zu klären, ob Kindesentführung vorliegt
Bei der Prüfung der letzten beiden Voraussetzungen muss das zuständige Gericht jedoch berücksichtigen, ob gemäß dem Haager Übereinkommen über die internationale Kindesentführung ein Verfahren zur Rückgabe dieses Kindes anhängig ist, das in dem Mitgliedstaat, in den das Kind widerrechtlich verbracht wurde, noch nicht rechtskräftig entschieden wurde. Das zuständige Gericht muss dabei gemäß den Bestimmungen des Haager Übereinkommens insbesondere berücksichtigen, dass es den Gerichten des anderen Mitgliedstaats so lange unmöglich ist, eine dem Kindeswohl entsprechende Sachentscheidung über das Sorgerecht zu treffen, bis das mit dem Antrag auf Rückgabe des Kindes befasste Gericht dieses Mitgliedstaats zumindest über diesen Antrag entschieden hat.
Quelle | EuGH, Urteil vom 13.7.2023, C-87/22 | TT, PM 127/23
| In Familiensachen wird oft besonders heftig gestritten. Gerade in Umgangssachen sind die Eltern häufig nicht bereit, zugunsten des Rechts der Kinder auf Umgang flexibel zu agieren. Folge: Bei Verstößen gegen eine gerichtlich gebilligtes Umgangsregelung darf das Gericht sog. Ordnungsmittel verhängen. So hat es das Oberlandesgericht (OLG) Celle entschieden. |
Die Eltern hatten eine familiengerichtlich genehmigte Vereinbarung zum Umgang getroffen. Darin war u. a. geregelt, dass der Vater samstags mit seinen Söhnen telefonieren darf. Dies verhinderte die Mutter jedoch.
Der Vater beantragte erstinstanzlich zunächst erfolglos, ein Ordnungsgeld gegen die Mutter festzusetzen. Das OLG gab ihm jedoch Recht. Es stellte sogar klar: Ordnungsmittel können auch bei beiderseitigen Verfehlungen der Eltern verhängt werden. Denn in einer solchen Situation ist darauf zu achten, dass gerichtliche Regelungen eingehalten werden. Sonst wären solche obsolet. Im Rahmen vereinbarter Telefonate muss der Umgangspflichtige nicht nur sicherstellen, dass das Kind erreichbar ist. Er muss auch für eine ungestörte Umgebung bzw. Atmosphäre sorgen, in der eine gute Verständigung möglich ist.
Quelle | OLG Celle, Beschluss vom 16.2.2023, 10 WF 168/22, Abruf-Nr. 235051 unter www.iww.de
| Kinder in einem Familienverfahren sollen nicht dauernd ihren Lebensmittelpunkt wechseln. Das hat jetzt das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden. |
Kinder bei der Mutter…
Nach der Trennung ihrer Eltern erging es zwei Kindern (7 und 12 Jahre) wie folgt: Im Jahr 2020 erstritt der Vater das vorläufige Aufenthaltsbestimmungsrecht. Anschließend sprach sich ein Gutachter für den Verbleib bei der Mutter aus, wohin die Kinder dann auch zunächst zurückkehrten. Nun war das Familiengericht an der Reihe. Es ordnete einen weitgehenden Umgang ähnlich des paritätischen Wechselmodells an.
… dann beim Vater…
Da die Kinder nicht mehr zum Vater wollten, hatten sie seit September 2022 keinen Umgangskontakt mehr mit ihm. Das nahm der Vater nicht hin. Er erwirkte nun das Aufenthaltsbestimmungsrecht und holte die Kinder zurück.
… nun wieder bei der Mutter…
Daraufhin bestellte das Gericht einen Verfahrensbeistand. Dieser empfahl, das Aufenthaltsbestimmungsrecht auf die Mutter zu übertragen. Die Kinder zogen dementsprechend wieder zur Mutter zurück.
… und wieder beim Vater
Der Vater legte hiergegen ein Rechtsmittel ein. Das Oberlandesgericht (OLG) gab ihm Recht. Die Kinder wechselten erneut zum Vater.
Jetzt endgültig bei der Mutter?
Die Verfassungsbeschwerde der Mutter hiergegen war erfolgreich jedenfalls vorläufig.
So entschied das Bundesverfassungsgericht
Das BVerfG setzte die Entscheidung des OLG bis zur Entscheidung in der Hauptsache aus. Es wollte den Kindern einen erneuten Wechsel zum Vater ersparen.
Belastung für die Kinder vermeiden
In einem vorläufigen Verfahren sah das BVerfG zwar die Bedenken des OLG gegen die Erziehungsfähigkeiten der Mutter. Es berücksichtigte auch die mögliche Entfremdung der Kinder von ihrem Vater. Dennoch so das BVerfG sei der Verbleib der Kinder bei der Mutter weniger belastend für sie ist als der erneute Wechsel in den väterlichen Haushalt. Dieser hätte ggf. dann zum dritten Mal mithilfe von Polizei und Gerichtsvollzieher vollstreckt werden müssen.
Selbstbestimmungsrecht der Kinder beachten, Entfremdung vermeiden
Das BVerfG wollte auch vermeiden, dass das Selbstbestimmungsrecht der Kinder missachtet wird. Denn dies würde sich negativ auf deren Persönlichkeit auswirken. Hinzu komme, dass das OLG den Wechsel zum Vater nicht wegen Kindeswohlgefährdung angeordnet hatte. Dies war nur geschehen, um die o. g. Entfremdung zu vermeiden.
Quelle | BVerfG, Beschluss vom 15.6.2023, 1 BvR 1076/23
| Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm hat über die Berufung eines strafgerichtlich rechtskräftig verurteilten Mörders in einem Verfahren wegen Erbunwürdigkeit entschieden. Dieser wollte die strafgerichtlichen Feststellungen zu seiner Täterschaft im erbrechtlichen Verfahren nicht gegen sich gelten lassen ohne Erfolg. |
Das war geschehen
Der Beklagte wurde im Mai 2017 wegen heimtückischen Mordes an seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau vom Landgericht (LG) zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Das Urteil ist seit Februar 2018 rechtskräftig. Die Revision des Beklagten wurde durch den Bundesgerichtshof (BGH) als unbegründet verworfen. Zwei Wiederaufnahmeanträge des Beklagten blieben über beide Instanzen erfolglos.
Nach dem rechtskräftigen Strafurteil hat der Beklagte sich am Morgen des 15.9.2016 vor dem Haus seiner Ehefrau in Bielefeld versteckt. Er war mit einer Sturmhaube maskiert und führte eine Schrotflinte bei sich. Als die Ehefrau das Grundstück in ihrem Fahrzeug verließ, trat der Beklagte aus seinem Versteck hervor und gab einen Schuss auf den Wagen ab. Hierdurch verlor die Ehefrau die Kontrolle über das Fahrzeug. Als dieses zum Stillstand kam, trat der Beklagte an die Fahrertür heran. Mit zwei weiteren Schüssen zerstörte er die Scheibe und tötete seine Ehefrau.
Das LG war von der Täterschaft des Beklagten überzeugt, der ein nachvollziehbares Tatmotiv hatte und mit den Örtlichkeiten und Gewohnheiten seiner Ehefrau vertraut war, um eine günstige Tatgelegenheit abzupassen. Er hatte als Jäger Zugang zu Waffen und war mit deren Umgang vertraut. Als wichtigste Indizien hat das Schwurgericht die DNA-Spuren des Beklagten an den am Tatort gefundenen zwei Patronenhülsen, der Sturmhaube und einem Langwaffen-Futteral angesehen.
Anfechtungsklage der Kinder gegen die Erbberechtigung des Vaters
Kraft gesetzlicher Erbfolge erbte der Beklagte neben den beiden mit der Getöteten gemeinsamen Kindern. Nach Abschluss des Strafverfahrens erhoben die Kinder eine Anfechtungsklage, mit der sie sich gegen die Erbberechtigung ihres Vaters wandten. Gestützt auf die strafgerichtlichen Feststellungen gab das LG Bielefeld dieser Klage wegen Erbunwürdigkeit statt. Die hiergegen vom Beklagten eingelegte Berufung zum OLG Hamm blieb ohne Erfolg.
Erbunwürdigkeit tritt nicht automatisch ein
Erbunwürdig ist unter anderem, wer den Erblasser oder die Erblasserin vorsätzlich und widerrechtlich tötet. Das Ausscheiden als Erbe wegen Erbunwürdigkeit tritt jedoch nicht automatisch ein. Vielmehr muss dies auf eine Anfechtungsklage desjenigen, der von der veränderten Erbfolge profitiert, in einem zivilgerichtlichen Verfahren festgestellt werden.
Das Zivilgericht ist dabei an rechtskräftige Feststellungen eines Strafurteils nicht gebunden, sondern muss sich in freier Würdigung der Beweise selbst von der widerrechtlichen Tötung überzeugen. Das rechtskräftige Strafurteil kann allerdings als Beweisurkunde verwendet werden. Seine Feststellungen haben besonderes Gewicht bei der Beweiswürdigung. In der Regel wird den strafgerichtlichen Feststellungen zu folgen sein, sofern nicht gewichtige Gründe für deren Unrichtigkeit sprechen. Wer sich, wie hier der Beklagte, auf einen vom Strafurteil abweichenden Sachverhalt beruft, muss gewichtige Gründe darlegen, die gegen dessen Richtigkeit sprechen.
Täter wollte von sich ablenken
Die vom Beklagten vorgebrachten Umstände waren zur Überzeugung des OLG unerheblich, sodass eine weitere Beweisaufnahme nicht erforderlich war. Soweit er mit näheren Ausführungen erstmals im zivilrechtlichen Berufungsverfahren den Lebensgefährten seiner getöteten Ehefrau als vermeintlichen Täter ins Spiel brachte, konnte er nicht darlegen, warum er dies nicht bereits viel früher, spätestens in der ersten Instanz des Zivilverfahrens, vorgebracht hatte. Seine Behauptung, dass ein Dritter insbesondere jener Lebensgefährte die Patronenhülsen, Sturmhaube und das Langwaffen-Futteral gezielt am Tatort platziert habe, um ihn zu belasten, ist rein spekulativ. Bereits das Schwurgericht hat das absichtliche Legen falscher Spuren durch eine dritte Person mit näherer Begründung ausgeschlossen. Hiergegen spricht neben den Schwierigkeiten der Beschaffung des Spurenmaterials vor allem auch der zeitliche Ablauf nach der Tat, da die Mutter der Getöteten unmittelbar nach den Schüssen zum Tatort eilte. Seine nun vorgebrachten Einwände gegen die Bewertung der DNA-Spuren stellen die strafgerichtliche Würdigung dieser Spuren nicht in Frage.
Quelle | OLG Hamm, Urteil vom 27.10.2022, 10 U 28/19, PM vom 19.7.2023
| Ob ein handschriftliches Testament vom Erblasser stammt oder nicht, ist oft umstritten. Helfen kann in solchen Fällen ein grafologisches Gutachten. Doch wer muss dessen Kosten tragen? Mit dieser Problematik hat sich das Oberlandesgericht (OLG) Brandenburg nun befasst. |
Stammte das Testament vom Erblasser?
Nach dem Tod des Erblassers beantragte X., gestützt auf ein handschriftliches Testament, einen gemeinschaftlichen Erbschein, der ihn und seine Schwester als Erben zu je 1/2 ausweist. Ein weiteres Kind des Erblassers trat dem mit der Begründung entgegen, das Testament stamme nicht vom Erblasser. Dies galt es zu beweisen. Doch wer musste die Kosten für ein insoweit notwendiges Sachverständigengutachten tragen?
Grafologisches Gutachten lieferte die Bestätigung
Das Nachlassgericht holte ein grafologisches Gutachten ein und kam zu dem Ergebnis, dass das Testament vom Erblasser eigenhändig geschrieben worden war, und erteilte daraufhin den Erbschein. Die Kosten für das Erbscheinsverfahren einschließlich der Auslagen für das eingeholte grafologische Gutachten (1.559 Euro) wurden sodann allein von X. eingefordert. Dieser war aber der Ansicht, die Kosten des Sachverständigengutachtens müssten dem weiteren Kind in Rechnung gestellt werden. Dieses habe die Begutachtung unnötigerweise und missbräuchlich veranlasst, um weiter in dem zum Nachlass gehörenden Haus wohnen zu können. Dem folgte das OLG jedoch nicht.
Wer beantragt, muss zahlen
Nach dem Gerichtskostengesetz (hier: § 22 Abs. 1 GNotKG) schuldet die Kosten in gerichtlichen Verfahren, die nur durch Antrag eingeleitet werden, derjenige, der das Verfahren des Rechtszugs beantragt hat. In Erbscheinsverfahren ist deshalb der Antragsteller Kostenschuldner. Wird die Erteilung eines gemeinschaftlichen Erbscheins nur von einem Miterben beantragt, haftet auch nur dieser; die übrigen Miterben können nicht herangezogen werden. Im Ergebnis trägt somit allein der X. die Kosten.
Quelle | OLG Brandenburg, Beschluss vom 8.5.2023, 3 W 4/23, Abruf-Nr. 235804 unter www.iww.de
| Welche Rechtsfolgen hat der Widerruf eines Widerrufstestaments? Und ist trotz späteren Verlöbnisses oder einer Eheschließung auf die Einsetzung des Partners einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft durch Testament das Bürgerliche Gesetzbuch (§ 2077 BGB) anzuwenden, wenn ein Widerruf des Einsetzungstestaments während der Ehe wiederum widerrufen wird? Mit diesen Fragen hat sich das Oberlandesgericht (OLG) Schleswig im Rahmen einer Beschwerde im Erbscheinsverfahren befasst. |
Das war geschehen
Der Erblasser errichtete im Jahr 1989 ein Testament, in dem er die Antragstellerin, die er später heiratete, zu seiner Erbin berief. Im Jahr 2005 schlossen sie notariell beurkundet u. a. einen Erbvertrag, in dem sie zunächst alle ihre früheren Verfügungen von Todes wegen widerriefen und wechselseitig Vermächtnisse bestimmten. Nachdem die Ehe scheiterte, schlossen die Antragstellerin und der Erblasser im Jahr 2009 u. a. erneut einen Erbvertrag. In diesem Zuge erklärten sie, dass sie alle ihre bisher gemeinsam errichteten Verfügungen von Todes wegen widerrufen, insbesondere den Erbvertrag von 2005, jedoch ihre bisher einzeln errichteten Verfügungen von Todes wegen ausdrücklich ihre Wirksamkeit behalten sollten. Nach dem Tod des Erblassers beantragte die Antragstellerin einen Erbschein als Alleinerbin.
So sieht es das OLG
Das OLG hat festgestellt: Der Widerruf eines Widerrufstestaments führt dazu, dass das ursprüngliche Testament rückwirkend wieder in Kraft tritt. Das Gericht stützt sich im Wesentlichen darauf, dass in der Kommentarliteratur die Frage der Wirkungen des Widerrufs des Widerrufstestaments unterschiedlich behandelt und „eher unklar“ formuliert wird. Da der Gesetzgeber mit dem Widerruf Wirkungen wie bei der Anfechtung habe erzeugen wollen, führe der Widerruf dazu, dass das ursprüngliche Testament rückwirkend in Kraft trete.
§ 2077 Abs. 1 BGB besagt: „Eine letztwillige Verfügung, durch die der Erblasser seinen Ehegatten bedacht hat, ist unwirksam, wenn die Ehe vor dem Tode des Erblassers aufgelöst worden ist. Der Auflösung der Ehe steht es gleich, wenn zur Zeit des Todes des Erblassers die Voraussetzungen für die Scheidung der Ehe gegeben waren und der Erblasser die Scheidung beantragt oder ihr zugestimmt hatte. Das Gleiche gilt, wenn der Erblasser zur Zeit seines Todes berechtigt war, die Aufhebung der Ehe zu beantragen, und den Antrag gestellt hatte.“
Da der Anwendungsbereich dieser Vermutungsregel hier nicht erfüllt sei, könne diese Vorschrift trotz späteren Verlöbnisses oder Eheschließung auch dann nicht auf die Einsetzung des Partners einer nicht ehelichen Lebensgemeinschaft durch Testament angewandt werden, wenn ein Widerruf des Einsetzungstestaments während der Ehe wiederum widerrufen worden wäre.
Quelle | OLG Schleswig, Beschluss vom 30.1.2023, 3 Wx 37/22, Abruf-Nr. 235321 unter www.iww.de