| Eine Arbeitsplatzbewerberin steht bei der Besichtigung des Unternehmens im Rahmen eines eintägigen unentgeltlichen „Kennenlern-Praktikums“ unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden. |
Die arbeitsuchende Klägerin absolvierte bei einem Unternehmen ein unentgeltliches eintägiges „Kennenlern-Praktikum“ auf der Grundlage einer „Kennenlern-/Praktikums-Vereinbarung“ mit diesem Unternehmen. Während des „Kennenlern-Praktikums“ fanden unter anderem Gespräche, eine Betriebsführung, ein fachlicher Austausch mit der IT-Abteilung und zum Abschluss die Besichtigung eines Hochregallagers statt. Bei der Besichtigung des Hochregallagers stürzte die Klägerin und brach sich den rechten Oberarm.
Anders als die beklagte Berufsgenossenschaft und die Vorinstanzen hat das BSG festgestellt, dass die Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten hat. Die Klägerin war zum Zeitpunkt des Unfalls Teilnehmerin einer Unternehmensbesichtigung. Teilnehmer einer Unternehmensbesichtigung sind nach der Satzung der beklagten Berufsgenossenschaft im Unterschied zu Satzungen anderer Unfallversicherungsträger unfallversichert.
Das eigene unversicherte Interesse der Klägerin am Kennenlernen des potenziellen zukünftigen Arbeitgebers steht dem Unfallversicherungsschutz kraft Satzung hier nicht entgegen. Die Satzungsregelung der Beklagten ist nicht auf Personen beschränkt, deren Aufenthalt im Unternehmen ausschließlich der Besichtigung dient. Unternehmer sollen vielmehr umfassend von Haftungsrisiken befreit werden, die durch erhöhte Gefahren bei Unternehmensbesuchen entstehen können.
Quelle | BSG, Urteil vom 31.3.2022, B 2 U 13/20 R, PM 12/2022
| Einzelvertragliche Vereinbarungen, nach denen sich ein Arbeitnehmer an den Kosten einer vom Arbeitgeber finanzierten Ausbildung beteiligen muss, soweit er vor Ablauf bestimmter Fristen aus dem Arbeitsverhältnis ausscheidet, sind grundsätzlich zulässig. Sie benachteiligen den Arbeitnehmer nicht generell unangemessen. Es ist jedoch nicht zulässig, die Rückzahlungspflicht schlechthin an das Ausscheiden aufgrund einer Eigenkündigung des Arbeitnehmers innerhalb der vereinbarten Bindungsfrist zu knüpfen. Vielmehr muss nach dem Grund des vorzeitigen Ausscheidens differenziert werden. Das hat jetzt das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden. |
Eine Reha-Klink forderte von der Arbeitnehmerin die Kosten für die Fortbildung zum „Fachtherapeut Wunde ICW“ anteilig zurück, als diese sechs Monate vor Ablauf der Bindungsfrist kündigte. Die Arbeitnehmerin meinte, die entsprechende Klausel des Fortbildungsvertrags sei unwirksam. Sie enthalte eine unangemessene Benachteiligung, weil sie den Arbeitnehmer auch dann zur Rückzahlung verpflichte, wenn er unverschuldet dauerhaft nicht mehr in der Lage sei, seinen arbeitsvertraglichen Pflichten nachzukommen, und das Arbeitsverhältnis deshalb personenbedingt kündige. Das BAG pflichtete dem insgesamt bei. Dass sich die Investition in die Fortbildung eines Arbeitnehmers aufgrund unverschuldeter dauerhafter Leistungsunfähigkeit für ihn nicht amortisiere, sei dem unternehmerischen Risiko zuzurechnen, so das BAG.
Quelle | BAG, Urteil vom 1.3.2022, 9 AZR 260/21
| Das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen hat drei Entfristungsklagen von Arbeitnehmern bei der Volkswagen AG (VW) stattgegeben und in weiteren sieben Fällen die Berufung gegen die klageabweisenden Urteile zurückgewiesen. |
Die Kläger waren bei VW sachgrundlos vom 1.9.2019 bis zum 31.5.2020 beschäftigt. Zuvor bestanden Arbeitsverhältnisse seit Anfang September 2016 mit der Firma AutoVision. Diese ist mit der Beklagten wirtschaftlich verbunden, aber rechtlich selbstständig. Die Kläger waren von Beginn des Arbeitsverhältnisses zur Firma AutoVision von dieser als Leiharbeitnehmer bei VW eingesetzt. Die früheren Arbeitsverhältnisse waren zunächst befristet. Die Kläger und AutoVision verlängerten die Befristung zweimal. Die Kläger haben sich gegen die Beendigung des Arbeitsverhältnisses infolge Fristablaufs gewandt und Rechtsmissbrauch geltend gemacht. Sie waren der Auffassung, die Eingliederung bei VW aufgrund der Leiharbeit in dem früheren Zeitraum von nahezu drei Jahren habe gegen die europäische Richtlinie über Leiharbeit verstoßen.
Das Arbeitsgericht (ArbG) hat sämtliche Klagen abgewiesen. In drei Verfahren hat das LAG der Berufung stattgegeben, weil auf die Arbeitsverhältnisse der Parteien wegen fehlender Gewerkschaftszugehörigkeit der Kläger ein Tarifvertrag, der eine Überlassungshöchstdauer von 36 Monaten vorsieht, nicht anzuwenden ist. Bei den übrigen, tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen hat das LAG die Überlassung als rechtswirksam angesehen. Es hat insbesondere keinen Verstoß gegen die europäische Richtlinie über Leiharbeit angenommen. Auch den Einwand des Rechtsmissbrauchs hat es verneint. Das LAG hat in allen Fällen die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) zugelassen.
Quelle | LAG Niedersachsen, Urteile vom 21.4.22, 5 Sa 97, 99, 372, 374, 375, 393, 395, 397, 398 und 401/21, PM vom 26.4.2022
| Die Stadt Iserlohn hat keinen Anspruch auf Rückzahlung einer Abfindung in Höhe von rund 265.000 Euro, die sie einem Verwaltungsangestellten im Rahmen eines Aufhebungsvertrags zugesagt und später auch gezahlt hat. Das hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm entschieden. |
Das war geschehen
Der beklagte Verwaltungsanstellte war seit Januar 2008 bei der Stadt Iserlohn gegen ein monatliches Tarifentgelt in Höhe von rund 3.700 Euro brutto beschäftigt. Nach Differenzen mit Vorgesetzten u. a. wegen der Einführung eines neuen Schichtdienstmodells bot die Stadt diesem am 24.1.2019 die Auflösung des Arbeitsverhältnisses bei rund siebenmonatiger bezahlter Freistellung und gegen Zahlung einer Abfindung von 250.000 Euro zuzüglich Steigerungsbeträgen bei vorzeitiger Beendigung an. Bei Aufhebung letztlich zum 30.4. 2019 zahlte die Stadt eine Abfindung in Höhe von 264.800 Euro brutto.
Dann geschah Folgendes: Die Staatsanwaltschaft leitete ein Ermittlungsverfahren ein, das Amtsgericht (AG) Hagen ordnete einen Vermögensarrest gegen den beklagten Arbeitnehmer in Höhe der Zahlung an und die Kommunalaufsicht schritt ein. Gegen den im Kontext dieses Sachverhalts zurückgetretenen früheren Bürgermeister der Stadt Iserlohn, den damaligen Bereichsleiter Personal und den beklagten Arbeitnehmer ist zwischenzeitlich Anklage mit dem Tatvorwurf der Untreue bzw. der Beihilfe zur Untreue erhoben worden.
Arbeitsgericht: Aufhebungsvertrag unwirksam Rückzahlung der Abfindung
Der parallel zum Strafverfahren im April 2020 anhängig gemachten Klage der Stadt auf Rückzahlung der Abfindung gab das Arbeitsgericht (ArbG) Iserlohn statt. Der Aufhebungsvertrag sei nach dem Landespersonalvertretungsgesetz (LPVG) NRW unwirksam. Die Stadt habe den Personalrat nicht ausreichend über die Inhalte des Aufhebungsvertrags informiert und insbesondere keine Angaben zur Höhe der Abfindung gemacht. Dies führe zur Unwirksamkeit des Aufhebungsvertrags und lasse den Rechtsgrund für die darauf geleisteten Zahlungen entfallen.
Nächste Instanz: Keine Unwirksamkeit durch Versäumnis der Stadt keine Rückzahlung
Dem folgte das LAG nach der kurzen mündlichen Urteilsbegründung am Schluss der Sitzung nicht. Die mangelhafte Beteiligung des Personalrats gehe auf ein Versäumnis der Stadt zurück, weshalb sich diese auf eine daraus folgende Unwirksamkeit des Aufhebungsvertrags nicht berufen könne. Es sei auch nicht erkennbar, dass der beklagte Arbeitnehmer mit dem Abschluss des Aufhebungsvertrags gegen Strafgesetze oder die guten Sitten verstoßen habe. Dies könne nicht allein deshalb gefolgert werden, weil die Abfindung im Vergleich zu den Gepflogenheiten öffentlicher Arbeitgeber ungewöhnlich hoch war. Vielmehr habe dieser das ihm vorteilhaft erscheinende Angebot annehmen dürfen.
Die Revision zum Bundesarbeitsgericht (BAG) hat das LAG nicht zugelassen.
Quelle | LAG Hamm, Urteil vom 15.2,2022, 6 Sa 903/21, PM vom 15.2.2022