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Monats-Archive: Januar 2021

Erbkrankheit: Muskelkrankheit Myotone Dystrophie Typ 1: Präimplantationsdiagnostik im Einzelfall zulässig

| Besteht für Nachkommen eines genetisch vorbelasteten Paares das hohe Risiko, an der klassischen Form der Myotonen Dystrophie Typ 1 zu erkranken, kann im Einzelfall die Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik (PID) erlaubt sein. Das hat jetzt das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschieden. |

Ablehnung durch die Bayerische Ethikkommission

Die Bayerische Ethikkommission für Präimplantationsdiagnostik lehnte die von der Klägerin beantragte Zustimmung ab, eine PID durchzuführen. Eine PID dürfe nach dem Embryonenschutzgesetz (ESchG) nur vorgenommen werden, wenn das hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit bestehe. Diese Voraussetzungen seien nicht gegeben. Bei dem Partner der Klägerin liege eine genetische Disposition für die Muskelerkrankung Myotone Dystrophie Typ 1 vor. Charakteristische Symptome seien Muskelsteifheit und eine langsam fortschreitende Muskelschwäche, insbesondere der Gesichtsmuskeln, der Hals- und Nackenmuskulatur sowie der Muskulatur von Unterarmen und -schenkeln. Bei einer ganz beachtlichen Zahl von Patienten zeige sich die Erkrankung aber erst im höheren Lebensalter. Für eine schwere kindliche Form des Krankheitsbildes bestehe lediglich eine sehr geringe Wahrscheinlichkeit, da sie i. d. R. nur über die Mutter vererbt werde. Auch vor dem Verwaltungsgericht (VG) und dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) war die Klage erfolglos.

Bundesverwaltungsgericht ist anderer Meinung

Das BVerwG hat der Revision der Klägerin stattgegeben und den beklagten Freistaat Bayern verpflichtet, ihren Antrag auf Durchführung einer PID zustimmend zu bewerten. Die Klägerin habe einen Anspruch auf Erteilung der Zustimmung der Ethikkommission, weil für ihre Nachkommen das hohe Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit bestehe. Hinsichtlich des Vorliegens dieser Voraussetzungen sei der Ethikkommission kein Beurteilungsspielraum eingeräumt. Ihre Entscheidung unterliege der vollen gerichtlichen Überprüfung.

Schwerwiegende Erbkrankheit

Erbkrankheiten seien insbesondere schwerwiegend, wenn sie sich durch eine geringe Lebenserwartung oder Schwere des Krankheitsbilds und schlechte Behandelbarkeit von anderen Erbkrankheiten wesentlich unterscheiden. Über die Zulässigkeit der PID sei in jedem Einzelfall gesondert zu entscheiden. Wenn fraglich sei, ob die Erbkrankheit bereits wegen der genetischen Disposition eines Elternteils hinreichend schwer wiege, seien auch mit dieser Disposition in Zusammenhang stehende weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen, wie etwa der Umstand, dass die Eltern bereits ein Kind mit der schweren Erbkrankheit haben oder die Frau nach einer Pränataldiagnostik und ärztlichen Beratung einen Schwangerschaftsabbruch hat vornehmen lassen, oder dass der Elternteil mit der genetischen Disposition selbst hieran erkrankt ist.

Danach lägen im Fall der Klägerin die Voraussetzungen des hohen Risikos einer schwerwiegenden Erbkrankheit vor. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Nachkommen der Klägerin und ihres Partners an der klassischen Form der Myotonen Dystrophie Typ 1 erkrankten, lägen bei 50 Prozent. Die Symptome würden in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter beginnen. Die Krankheit verlaufe progredient, also fortschreitend. Betroffene hätten mit erheblichen Beeinträchtigungen in der Lebensgestaltung und einer geringeren Lebenserwartung zu rechnen. Im Fall der Klägerin komme hinzu, dass ihr Partner selbst deutliche Symptome der Erkrankung zeige.

Quelle | BVerwG, Urteil vom 5.11.20, 3 C 12.19;PM Nr. 63/2020 vom 5.11.2020

Corona-Pandemie: Fristlose Änderungskündigung zur Einführung von Kurzarbeit im Einzelfall gerechtfertigt

| Das Arbeitsgericht (ArbG) Stuttgart hat jetzt entschieden: Eine fristlose Änderungskündigung mit dem Ziel, das Einführen von Kurzarbeit zu ermöglichen, kann im Einzelfall als betriebsbedingte Änderungskündigung gerechtfertigt sein. Es hat aber auch darauf hingewiesen: Für die Frage der Verhältnismäßigkeit der Kündigung sind insbesondere eine entsprechende Ankündigungsfrist und eine Begrenzung der Dauer der (möglichen) Kurzarbeit von Bedeutung sowie der Umstand, dass Kurzarbeit nur eingeführt werden kann, wenn die entsprechenden Voraussetzungen zur Gewährung von Kurzarbeitergeld auch in der Person des Arbeitnehmers vorliegen. |

Die Klägerin, Personaldisponentin einer Leiharbeitsfirma, koordinierte den Einsatz von Leiharbeitnehmern in Kindergärten und Kitas. Da aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie auch Kindergärten zeitweise geschlossen wurden, wurden dort Leiharbeitnehmer nicht mehr benötigt.

Der Beklagte, Arbeitgeber der Klägerin, beantragte daher Kurzarbeit. Die Bundesagentur für Arbeit genehmigte diese. Hiervon fühlte sich die Klägerin zunächst nicht betroffen. Denn sie wurde vier Tage später für längere Zeit krankgeschrieben. Der Kläger bat sie um die vorgeschriebene Zustimmung zur Kurzarbeit. Dies lehnte sie ab. Daraufhin sprach der Kläger eine fristlose Änderungskündigung aus (Kündigung des bisherigen Arbeitsverhältnisses und gleichzeitiges Anbieten eines neuen Arbeitsverhältnisses). Nach diesem neuen Arbeitsverhältnis durfte der Kläger bis Ende Dezember 2020 Kurzarbeit anordnen.

Die Klägerin hielt die fristlose Änderungskündigung für unwirksam. Ihr Arbeitgeber sei keiner wirtschaftlich schwierigen Situation ausgesetzt. Das sah das ArbG komplett anders. Die Änderungskündigung sei wirksam. Sie sei insbesondere verhältnismäßig: Denn es sei zu einem unbestreitbaren, erheblichen Arbeitsausfall gekommen. Ein notwendiger „wichtiger Grund“ für eine fristlose Änderungskündigung habe also vorgelegen. Ein milderes Mittel als Alternative habe dem Kläger nicht zur Verfügung gestanden. Die fristlose Änderungskündigung habe bezweckt, eine Grundlage für Kurzarbeit und damit für den Erhalt von Kurzarbeitergeld zu schaffen.

Das ArbG betont: Würde man dies anders sehen, wäre bei Verweigerung einzelner Arbeitnehmer die Einführungsmöglichkeit von Kurzarbeit gerade bei längeren Kündigungsfristen (sinnvoll) ausgeschlossen.

Quelle | ArbG Stuttgart, Urteil vom 22.10.2020, 11 Ca 2950/20

Diskriminierung: „Ugah, Ugah“ mit Folgen: Kündigung wegen menschenverachtender Äußerung bleibt wirksam

| Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat eine Verfassungsbeschwerde gegen arbeitsgerichtliche Entscheidungen zu einer Kündigung wegen einer groben menschenverachtenden Äußerung nicht zur Entscheidung angenommen. Damit bleiben die Entscheidungen der Gerichte für Arbeitssachen wirksam, wonach die Äußerung „Ugah, Ugah“ gegenüber eienem dunkelhäutigen Kollegen eine menschenverachtende Diskriminierung darstellt, die sich nicht unter Berufung auf das grundgesetzlich garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung rechtfertigen lässt. |

Das war geschehen

Der Beschwerdeführer betitelte in einer kontrovers ablaufenden Betriebsratssitzung einen dunkelhäutigen Kollegen mit den Worten „Ugah, Ugah!“, der ihn wiederum als „Stricher“ bezeichnete. Die daraufhin gegen den Beschwerdeführer ausgesprochene Kündigung erachteten die Arbeitsgerichte als wirksam, auch aufgrund einer einschlägigen vorhergehenden Abmahnung, die aber nicht zu einer Änderung seines Verhaltens geführt hatte.

Das sagte der Beschwerdeführer

Dagegen berief sich der Beschwerdeführer auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit erfolglos. Die Arbeitsgerichte hätten seine Grundrechte gegenüber dem Kündigungsinteresse der Arbeitgeberin nicht abgewogen. Man dürfe ihm keine rassistische Einstellung vorwerfen. Der Umgangston im Betriebsrat sei durchaus „hin und wieder flapsig“. Das liege daran, dass es von allen Betriebsratsmitgliedern gewollt sei, die teilweise abstrakte bürokratische Materie durch Auflockerung der Gesprächsatmosphäre zu fördern. Es gehöre zum gepflegten Umgangston unter den Betriebsratsmitgliedern und sei bislang nie ein Problem gewesen. Seine Einwände blieben erfolglos.

So sieht es das BVerfG

Das BVerfG hält die Wertungen für richtig, die die Arbeitsgerichte getroffen haben, und die sich aus den Grundrechten der Meinungsfreiheit und Menschenwürde sowie dem Diskriminierungsverbot ergeben. Sie verletzen den Beschwerdeführer nicht in seinem Grundrecht der Meinungsfreiheit. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit durch die arbeitsgerichtliche Bestätigung der Kündigung sei verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Zutreffend wurde die konkrete Situation als maßgeblich angesehen, in der ein Mensch mit dunkler Hautfarbe direkt mit nachgeahmten Affenlauten adressiert wird. Der Schluss, dass aufgrund der Verbindung zu einem nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verpönten Merkmal keine nur derbe Beleidigung vorliege, sondern die Äußerung fundamental herabwürdigend sei, sei auch im Lichte des grundgesetzlichen Diskriminierungsverbots korrekt, das sich gegen rassistische Diskriminierung wendet.

Menschenwürde vor Meinungsfreiheit

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit erfordere im Normalfall eine Abwägung zwischen drohenden Beeinträchtigungen der persönlichen Ehre und der Meinungsfreiheit. Die Meinungsfreiheit trete aber zurück, wenn herabsetzende Äußerungen die Menschenwürde antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. Das haben die Gerichte hier in Anwendung des Kündigungsschutzrechts nicht verkannt, so das BVerfG. Sie hätten ausführlich begründet, dass und warum es sich um menschenverachtende Diskriminierung handelt. Danach wird die Menschenwürde angetastet, wenn eine Person nicht als Mensch, sondern als Affe adressiert wird, und damit das Recht auf Anerkennung als Gleiche unabhängig von der „Rasse“ verletzt wird. Diese Wertung sei ebenso, wie die im Rahmen der fristlosen Kündigung geforderte Gesamtwürdigung, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

Quelle | BVerfG, Beschluss vom 2.11.2020, 1 BvR 2727/19; PM Nr. 101/2020 vom 24.11.2020